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Stichwort
Klaus Mertes
Martyrium
Zunächst einmal ist auf den banalen, aber entscheidenden Unterschied hinzuweisen, dass der Märtyrer nicht von eigener Hand stirbt, sondern von anderen getötet wird. Die Verantwortung für den Tötungsbeschluss und den Tötungsakt liegt nicht beim Märtyrer, sondern bei seinen Mördern. Er ist nicht Subjekt, sondern Objekt der Tötung. Besonders deutlich wird dieser Unterschied, wenn man sich klar macht, dass Martyrium immer auf die eine oder andere Weise mit Folter verbunden ist. In der Folter soll und wird dem Märtyrer die Möglichkeit genommen, seine Würde darzustellen. Das gilt ganz besonders auch für den Tod am Kreuz.

Kein Vorrang der Nächstenliebe vor der Selbstliebe

Deswegen kann auch nicht von Martyrium die Rede sein, wo der „Märtyrer“ den Tötungsbeschluss gegen sich absichtlich provoziert. Er wäre dann wieder Subjekt, nicht Objekt der Tötung. Möglicherweise geht er bewusst durch sein Handeln das Risiko ein, getötet zu werden. Aber das ist keine absichtliche Provokation der Tötung. Als die Autoren der „Weißen Rose“ Flugblätter gegen die Nazis in München verteilten, wussten sie, dass sie damit ihr Leben riskieren. Trotzdem tragen sie nicht die moralische Verantwortung dafür, dass sie zum Tod verurteilt wurden. Auch im anderen, klassischen Fall des „Martyriums“, der Verweigerung gegenüber einem Unrechtsbefehl, provoziert der Märtyrer nicht seinen Tod. Vielmehr legt er durch seine Verweigerung Zeugnis für das Recht ab. Martyrium bedeutet „Zeugnis“. Die Makkabäer weigern sich, das Standbild des Nebukadnezar anzubeten. Sie wissen, dass es sie das Leben kosten wird und tun es trotzdem nicht. Sie legen Zeugnis – Martyrium – für ihren Glauben ab, indem sie sich verweigern. Ihr „Nein“ ist eine Predigt. Aber die Situation, in der diese äußerste und wirksamste Form des Zeugnisses stattfindet, haben sie nicht zu verantworten. Sie haben sie nicht absichtlich provoziert. Hätten sie die Situation aktiv provoziert, um darin predigen zu können, würde es schon schwieriger, ihr Martyrium von einem Suizid zu unterscheiden.

Dies alles gilt auch für das Martyrium Jesu. Nicht Jesus verantwortet seinen Tod, sondern seine Mörder. Er verantwortet ihn auch nicht in Form von Gehorsam gegenüber einem Tötungsbeschluss, den Gott in seinem Plan zur Erlösung der Welt beschlossen hätte. Wenn das „muss“ seiner Leidensankündigungen (vgl. Mk 8,31: „Der Menschensohn muss viel erleiden und [...] verworfen werden“) die moralische Legitimation dafür bedeuten würde, den Anlass selbst schaffen zu dürfen, um getötet zu werden, dann würde Jesus selbst die moralische Verantwortung für seinen Tod tragen. Nicht einmal in der Ausführung angeblicher Pläne Gottes darf aber das Liebesgebot übertreten werden, welches das Gebot der Selbstliebe einschließt. Die Goldene Regel besagt, weder das eigene Leben noch das Leben eines anderen als bloßes Mittel für einen Zweck einsetzen zu dürfen. Dies gilt auch für die vom Menschen vermuteten Zwecke, die Gott angeblich in seinen Plänen im Sinn hat. Die Goldene Regel fungiert in diesem Falle als Kriterium für die Unterscheidung der Geister, ob bestimmte „Pläne“ von Gott kommen können oder nicht. Es ist – jedenfalls für das Christentum – aus vielen Gründen viel einsichtiger, dass Gott keine Ausnahme von der Goldenen Regel macht und sich in seiner Menschwerdung ihr sogar noch einmal ausdrücklich beugt, als anzunehmen, dass ausgerechnet ein Bruch der Goldenen Regel durch Gott zur Heilstat für die Menschen werden sollte. Eine ganz andere Sache ist die innere Zustimmung des Märtyrers zu seiner Situation des anstehenden, wahrscheinlichen oder sicheren Martyriums. Die Geschwister Scholl kämpfen in den ersten Verhören vor der Gestapo noch um ihr Leben, aber als die Beweislast für ihr „Verbrechen“ übermächtig wird, gestehen sie es ein und distanzieren sich zugleich nicht von ihrer Tat. Damit ist indirekt ein Ja zum eigenen Martyrium gegeben, das aber kein Ja zum eigenen Tod ist, sondern ein Ja zu der guten Tat, die von anderen schuldhaft mit dem Tod geahndet wird. [...]


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