archivierte Ausgabe 4/2010 |
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Dennis Halft |
Christen im Orient |
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Die orientalischen Christen und ihre Kirchen stehen heute vor großen Herausforderungen. Schlagwörter wie Resignation, Marginalisierung, Verfolgung, Auswanderung oder Diaspora bestimmen seit langem die Debatte um Lage und Zukunft der Christen im Nahen und Mittleren Osten. Dabei zeichnen sich die orientalischen Kirchen durch eine beeindruckende (den interessierten Laien bisweilen auch verwirrende) Vielfalt aus. Allein dem 1974 gegründeten Middle East Council of Churches (MECC), dem wichtigsten ökumenischen Zusammenschluss in der Region, gehören 27 Kirchen an. Diese gliedern sich in verschiedene Kirchengruppen, die der orientalisch-orthodoxen (u.a. syrisch- und koptisch-orthodoxe Kirche), der östlich-orthodoxen (v.a. verschiedene griechisch-orthodoxe Patriarchate), der katholischen (mit Rom unierte Teilkirchen wie die maronitische, griechisch- melkitische und chaldäische mit eigener Liturgie und Spiritualität) und der evangelischen Kirchen. Ihre Entstehung geht häufig auf Schismen und Abspaltungen auf frühchristlichen Konzilien, Unionsbemühungen der Römischen Kirche oder die protestantische Mission zurück. Die Vielfalt des orientalischen Christentums ist einzigartig. Abgesehen von Schätzungen existieren keine zuverlässigen Angaben zur Größe der Kirchen im Nahen und Mittleren Osten, da jede Zahl politischen Sprengstoff birgt (laut MECC liegt die Gesamtzahl der Gläubigen bei etwa 12–14 Mio.). Vielerorts drohen Größe und Einfluss von Religions- und Konfessionsgemeinschaften zum Argument für bzw. gegen politische Ansprüche auf Teilhabe an Staat und Gesellschaft zu werden. Im Libanon etwa, der wegen seines – trotz Emigration und vergleichsweise niedriger Geburtenrate immer noch – hohen christlichen Bevölkerungsanteils eine Sonderrolle einnimmt, hat deshalb seit 1932 keine Volkszählung mehr stattgefunden. Jedes Erfassen veränderter demografischer Verhältnisse könnte das fragile politisch-konfessionelle System und damit die politische Stellung der eigenen Religions- und Solidargemeinschaft gefährden. Bereits der libanesische Bürgerkrieg (1975–1990) entzündete sich an der Frage nach den Machtverhältnissen zwischen Christen und Muslimen, die heute noch durch einen – unter demokratischen Gesichtspunkten durchaus fragwürdigen – Proporz zu gleichen Teilen an der Macht im Staat beteiligt sind. Demografie im Nahen Osten ist ein Politikum. Im „Haus des Islam“ Orientalische Christen leben heute in mehrheitlich muslimisch geprägten Ländern. Häufig werden sie als ein „Archipel“ auf islamischem Boden wahrgenommen, das vom Untergang bedroht sei. Tragische Ereignisse wie die Ermordung einer Gruppe koptischer Christen (und eines muslimischen Wachmanns) nach dem Besuch der orthodoxen Christmette am 6. Januar 2010 in der ägyptischen Stadt Nag Hammadi wecken bei orientalischen Christen immer wieder schlimmste Befürchtungen. Wenn es um das Verhältnis von Muslimen zu Nicht-Muslimen geht, sind häufig verzerrte Ansichten zu hören wie die These von einer immanenten Gewaltneigung des Islam oder die von einer genuin friedlichen Religion. Doch trotz solcher schockierender Nachrichten ist zu bedenken, dass nicht «der» Islam (den es als solchen gar nicht gibt) für Intoleranz und Gewalt verantwortlich ist, sondern dass es stets Menschen sind, die ihren Glauben radikal und fundamentalistisch auslegen. Die hermeneutische Frage nach dem Verständnis religiöser Texte (und ihrem „Gewaltpotential“), die unter ganz anderen historischen Bedingungen entstanden sind, als wir sie heute gemeinhin lesen, stellt sich nicht nur für den Islam, sondern für jede Religion immer wieder. [...]
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