archivierte Ausgabe 4/2019 |
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Stichwort |
DOI: 10.14623/wua.2019.3.146-149 |
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Jan Niklas Collet |
Eine gute Nachricht für die Armen |
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Vielleicht konsequenter als manch andere Theologie hat die lateinamerikanische Befreiungstheologie ihre Kontextualität in die eigene Tätigkeit integral mit einbezogen. Dies soll weder ihrer Regionalisierung (Reduktion auf lateinamerikanische Theologie) noch ihrer Historisierung (Reduktion auf ein Stück Kirchen- und Theologiegeschichte) das Wort reden. Die Vergewisserung ihrer historischen Genese zielt vielmehr auf eine grundlegende theologische Orientierung im Blick auf ihre bleibende praktische und theoretische Kraft – in Lateinamerika und darüber hinaus.
Zur Genese der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung
Eine zentrale innerkirchliche und theologische Bedingung für die Entstehung der Befreiungstheologie besteht in einer erneuerten Bestimmung des Verhältnisses der Kirche zur modernen Welt, wie sie sich in den Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils niederschlägt.1 In einer schematischen Einteilung lässt sich diesbezüglich pointiert von einem Wandel von einem vertikalen hin zu einem horizontalen Verhältnis sprechen. Die Kirche steht demnach nicht in asymmetrischer Opposition zur Welt, der sie das christliche Heil „von oben“ zuteilt (Deduktion). Vielmehr befindet sie sich inmitten der Welt, deren Freude und Hoffnung, Trauer und Angst sie teilt (vgl. GS 1) und in der sie ohne absolutes Vorwissen nach den Zeichen der Zeit forscht und sie im Licht des Evangeliums deutet (vgl. GS 4 und 11) (Induktion).2
Dieses kirchliche Selbstverständnis traf in der Mitte des 20. Jahrhunderts in Lateinamerika auf eine gesellschaftliche und politische Situation3, die von immensen sozialen Ungleichheiten geprägt war. Für viele Menschen war nicht einmal die Befriedigung der Grundbedürfnisse selbstverständlich. Demgegenüber stand jeweils eine kleine nationale Elite, in deren Händen die wirtschaftlichen und politischen Geschicke ihrer Länder lagen. Dagegen bildeten sich breite antikapitalistische und antiimperialistische Protestbewegungen, die auf eine grundlegende Transformation politischer und gesellschaftlicher Strukturen zielten. Theoretisch begleitet wurde dies von den Mitte der 1960er Jahre entstehenden Dependenztheorien, die zeigten, dass die sogenannte Unterentwicklung der Länder des globalen Südens die Möglichkeitsbedingung für den Wohlstand der Länder des Nordens war.
In diesem Kontext und begünstigt durch die kirchlich-theologischen Impulse entstanden an vielen Orten in Lateinamerika Basisgemeinden.4 In ihnen verdichtete sich der Beginn einer pastoralen Praxis und theologischen Reflexion, die zum ersten Mal seit der gewaltsamen Kolonisierung des Subkontinents von der lateinamerikanischen gesellschaftlichen Realität selbst ausging (und nicht von Europa). Hier organisierten sich vorwiegend Gruppen der armen Bevölkerungsmehrheiten, die die biblischen Texte im Licht der von ihnen erlebten Situation her lasen und umgekehrt. Diese praktisch-hermeneutische Arbeit der Interpretation war eng mit einer Arbeit der Organisierung verbunden, um das eigene Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Dieses Aufbegehren großer Teile der armen Bevölkerungsmehrheit in den Basisgemeinden und sozialen Bewegungen wurde in zunehmendem Maße zur Bedrohung bestimmter Interessen einheimischer Oligarchien und ausländischer Mächte, v. a. der USA. Diese Interessengruppen zielten daher auf die Schwächung und zunehmend auch auf die gewaltsame Niederschlagung der Proteste. Die mittelfristige Folge waren Bürger- oder schmutzige Kriege in fast allen lateinamerikanischen Staaten, deren Nachwirkungen dort bis heute zu spüren sind.
Armut und Unterdrückung wurden vor diesem Hintergrund in ihrem strukturellen Zusammenhang verstanden: wo die Armen aufbegehren, erfahren sie Verfolgung und Unterdrückung. Dies traf auch auf die Basisgemeinden zu, die der soziale Ort der befreiungstheologischen Reflexion in ihrer ersten Stunde waren (und z. T. bis heute sind). Das Martyrium des (inzwischen heiliggesprochenen) salvadorianischen Erzbischofs Oscar Arnulfo Romero ist nur eines von zahllosen Beispielen von in ihrer Mehrheit anonym gebliebenen Männern und Frauen, die im Glauben an den lebendigen Gott ihr Leben gegeben haben. Sie sind Zeug*innen einer Vertiefung der horizontalen Bestimmung des Kirche-Welt-Verhältnisses hin zu einem parteilichen Verhältnis: die Kirche befindet sich nicht abstrakt in der Welt, sondern an einem präzise bestimmbaren Ort: bei den Armen und Unterdrückten.5
Primat der Praxis und Option für die Armen
Der Blick auf zentrale Entstehungsbedingungen der Befreiungstheologie sollte hinreichend deutlich gemacht haben, dass diese von jeglichem Voluntarismus denkbar weit entfernt ist. Denn erstens hatte die befreiungstheologische Einsicht in die vorrangige Option für die Armen ihren materialen und sozialen Ort in den Basisgemeinden und zweitens war sie von Anfang an theologisch gesättigt. Es handelt sich in keiner Weise um eine Art biblizistischen Dezisionismus, sondern um ein Paradebeispiel einer induktiven Theologie unter dem Primat der Praxis, die die mühselige Arbeit des theologischen Arguments nicht scheut.6
Diese ist notwendig, weil der Primat der Praxis nicht automatisch Selbstevidenzen hervorbringt und darum einer weiteren Bestimmung und Konkretisierung bedarf. Der Primat der Praxis fordert den begründeten Ausweis der konkreten Praxis, auf die sie bezogen wird: welche Praxis? Auch dies ist freilich nur innerhalb der Dialektik von Theorie und Praxis möglich. Wer (bewusst oder unbewusst) meint, diese Bestimmung und Konkretisierung von einem Außerhalb der gesellschaftlichen Realität her vornehmen zu können, sitzt bereits einem folgenschweren erkenntnistheoretischen Irrtum auf. Insofern ist die Befreiungstheologie hinsichtlich ihres Erkenntnisortes schlicht und einfach ehrlich und transparent.
Die Frage „welche Praxis?“ beantwortet die Theologie der Befreiung mit der Option für die Armen. Ihr Ausgangspunkt ist die reale Situation der Armut, im Metz’schen Duktus die Autorität der Leidenden, die alles andere als eine bloße theologische Metapher für den*die ist, der*die sich den leidenden und hoffenden Menschen und ihren Geschichten ernsthaft aussetzt. Zugleich eignet der Autorität der Leidenden als erkenntnistheoretischem Prinzip der Theologie Optionscharakter. Erstens, weil sie die notwendige subjektive Offenheit und Bereitschaft erfordert, sich ihr tatsächlich auszusetzen (und wer dies nicht tut, ist selbst in der Begründungspflicht); und zweitens, weil auch sie (als theologisches Erkenntnisprinzip) innerhalb der spezifisch christlichen Dialektik von Theorie und Praxis steht. Insofern ist die Theologie der Befreiung zugleich in höchstem Maße praxisnah, kritisch und selbstreflexiv – und vermutlich gerade darum eine Provokation für jedwede abstrakte und bürgerliche Kirche und Theologie.
Theologie unter dem Paradigma der Befreiung
Diese Art und Weise, Theologie zu treiben, erlaubt es nicht, gegenüber der geschichtlichen und gesellschaftlichen Realität eine abstrakte Haltung der Neutralität einzunehmen.7 Die Option für die Armen fordert von der Theologie eine Antwort auf die Autorität der Leidenden, die gleichermaßen theologisch wie geschichtlich sein muss. Diese Antwort zehrt christlich-theologisch von dem Glauben an das in Jesus bereits angebrochene Reich Gottes. Das theologische und spirituelle Fundament christlicher Befreiungspraxis und der Theologie der Befreiung ist dieser Glaube an die Gutheit des Lebens und die darauf bezogenen Verheißungen des Gottes Jesu Christi. Armut, Gewalt, Ausgrenzung, Marginalisierung, Diskriminierung – all das sind demnach geschichtliche Negationen des Gottesreiches, die eine geschichtliche Antwort einer Theologie des Reiches Gottes erfordern. Insofern ist der christliche Glaube auf doppelte Weise utopisch. Zum einen wird seine Behauptung von der Gutheit des Lebens de facto auf vielfältige Weise negiert und ist in diesem Sinne u-topisch, ortlos. Zum anderen sind diese Negationen stets Negationen von etwas. Demgegenüber sind sie nachträglich und darum abhängig von dem, was sie negieren. Daher können sie niemals absolut sein. Dies hält die geschichtliche Zukunft offen und ermöglicht eine kritische und kreative Befreiung von armmachenden und unterdrückerischen Strukturen im Modus geschichtlicher Offenheit. Der Ort der christlichen Utopie ist daher ihre eigene Ortlosigkeit. Von dort her zielt sie auf bestimmte Weise auf die Überwindung ihrer eigenen Negation: sie ist die Negation der Negation des Gottesreichs. Diese wird dann erfüllt und vollendet sein, wenn ihre Ortlosigkeit ihren Ort verloren haben wird. Bis dahin steht die Geschichte unter dem eschatologischen Vorbehalt und die Theologie unter der Autorität der Leidenden.
Vielfalt und Einheit der Theologie der Befreiung
Von dieser gemeinsamen Basis ausgehend ließe sich zwischen verschiedenen Ansätzen befreiender Theologie unterscheiden: etwa dem Ansatz einer Theologie der Befreiung (z. B. Gustavo Gutiérrez OP, Ignacio Ellacuría SJ, Jon Sobrino SJ), dem Ansatz der Befreiung der Theologie (Juan Luis Segundo SJ) und dem Ansatz der Theologie des Volkes (Juan Luis Scannone SJ). Der Primat der Praxis, die Option für die Armen und das theologische Paradigma der Befreiung können dabei als verbindende Elemente dieser durchaus unterschiedlichen Gestalten befreiender Theologie gelten – auch über Lateinamerika und das Christentum hinaus, wofür das vorliegende Heft ein sprechendes Beispiel ist.
Diese engagierte und parteiliche Art des Theologietreibens ist von bleibender Aktualität auch unter veränderten (geo-)politischen Konstellationen. Die Leidenden fordern nach wie vor ihre Autorität ein. Entfesselter Neoliberalismus, Klimakatastrophe, globale autoritäre Wende, Chauvinismus, Rassismus, Antisemitismus und religiöser Fundamentalismus produzieren Armut und Gewalt an allen möglichen Orten der Erde. Welche theologischen Antworten bieten heute (befreiende) Theologien – und zu welcher Praxis stiften sie an?
01 Zur Genese der Befreiungstheologie insgesamt s. B. Kern, Theologie der Befreiung, Tübingen 2013, 10–25. 02 Vgl. L. Boff, Teología desde el lugar del pobre, Santander 1986. 03 Vgl. hierzu z. B. den spezifischen Überblick für Zentralamerika bei R. Cardenal, Manual de historia de Centroamérica, San Salvador 132018, 341–431 04 Vgl. M. de C. Azevedo, Kirchliche Basisgemeinden, in: I. Ellacuría/J. Sobrino (Hrsg.), Mysterium Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung, Bd. II, Luzern 1996, 879–900. 05 Vgl. nochmals L. Boff, Teología desde el lugar del pobre, a.a.O. 06 Zum Primat der Praxis vgl. I. Ellacuría, Relación teoría y praxis, in: ders.: Escritos teológicosI, San Salvador 2000, 235–245; ders., La teología como momento ideológico de la praxis eclesial, in: ebd., 163–185; zur Option für die Armen vgl. C. Boff/J. Pixley, Option für die Armen, Düsseldorf 1987. 07 Vgl. I. Ellacuría, Utopie und Prophetie, in: ders./J. Sobrino (Hrsg.), Mysterium Liberationis, Bd. I, Luzern 1995, 383–431.
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