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Leseprobe 1 |
DOI: 10.14623/wua.2022.1.14-20 |
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Jochen Sautermeister |
Souveränität und Authentizität |
Existenzielle und psychologische Anmerkungen zum Maßhalten |
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Maßvoll zu leben, in Balance zu sein und aus der Mitte heraus zu handeln – all das zählt zu den Basics populärer Klugheitsregeln und Lebensweisheiten und findet bis in Werbeslogans, Buchtitel und Lifestyle-Angebote hinein seinen Niederschlag. In diesen bildhaften Wendungen kommt eine menschliche Sehnsucht zum Ausdruck, die um die Gefährdetheit und Brüchigkeit eines authentischen, stimmigen Lebens weiß; eine Sehnsucht, die sich aus der Erfahrung von existenzieller Unsicherheit und Orientierungsnot, von innerem Zweispalt und Uneindeutigkeit, von emotionalen Turbulenzen und dem Ausgeliefertsein an eigene Affekte, Gefühle und Motive sowie dem Ringen um richtige Entscheidungen und persönliche Handlungssouveränität speist.
Die existenzielle Sehnsucht nach einem stimmigen Leben
Diese Sehnsucht resultiert nicht aus irgendeinem Gefühl, einer bestimmten Stimmung oder einer spezifischen Vorstellung von gelingender Identität. Vielmehr erwächst sie aus der existenziell-anthropologischen Verfasstheit des Menschen als weltoffenem und instinktarmem Wesen. In ihr gewinnt die theoretische Frage nach dem Glücken des Menschen, nach dem guten, sinnvollen und erfüllten Leben eine vitale Gestalt, die als solche gerade nicht hinreichend durch die Übernahme spezifischer Rollen oder die Angleichung an einen idealtypischen Lebensentwurf als allgemeines Modell oder gar Korsett für die eigene Identität ausgefüllt werden kann.
Gleichwohl kann die Sorge, sein Leben angesichts aller Unabwägbarkeiten, Unsicherheiten und einander widerstreitender Impulse so leben zu wollen, dass man es nicht bereut, dazu führen, dass man sich schematisch oder gar sklavisch an bestimmte Vorgaben hält oder Erwartungen anderer zu entsprechen sucht. Das Gegenteil einer solchen sklerotischen Stabilisierung der eigenen Identität ist das Zurückschrecken vor jeglicher Festlegung, um ja nicht den je momentanen situativen Erlebnissen und Begebenheiten ihre eigene Präsenz und Aufmerksamkeit zu entziehen. Destabilisierung und Diffusion der eigenen Identität sind dann die Folge. Damit gewinnt die ethische Tugend des Maßes bzw. der Besonnenheit als Tugend der Selbstbeherrschung bzw. Mäßigung eine existenzielle Qualität. Maßhalten als Charaktertugend bezeichnet dann – im Unterschied zur Impulsivität, Überschwänglichkeit, Getriebenheit oder habitualisierter Dysbalance – eine mehrdimensionale Haltung, die Realitätssinn, innere Ruhe und Reflektiertheit sowie ein effektives Handelnwollen umfasst.1
Die Paradoxalität menschlicher Strebekräfte als existenzielle Herausforderung
In seiner bereits zum Klassiker avancierten psychologisch-psychoanalytischen Studie „Grundformen der Angst“ hat Fritz Riemann ausgeführt, dass die menschliche Existenz in unauflösbare Antinomien eingespannt ist, „die wir in ihrer unauflösbaren Gegensätzlichkeit und Widersprüchlichkeit leben“.2 In ihnen verkörpern sich vier einander komplementär-widerstreitende vitale Strebungen, die die Art und Weise dynamisieren, wie wir uns in unserem Selbst- und Weltverhältnis erleben und unser Leben gestalten. Zum einen ist es das polare Spannungsverhältnis zwischen der Bestrebung der Individuation, also zu einem einmaligen Individuum zu werden, einerseits und der Bestrebung der Anbindung, d. h. sich der Welt und dem Leben vertrauensvoll zu öffnen und sich einzufügen, andererseits. Die erste Paradoxie besteht nach Riemann also darin, „sowohl die Selbstbewahrung und Selbstverwirklichung [zu] leben, als auch die Selbsthingabe und Selbstvergessenheit“.3 Zum anderen befinden sich Menschen in der Spannung zwischen dem Bestreben nach Beständigkeit und Dauer auf der einen Seite und Veränderung und Wandel auf der anderen. Beides zu leben und zu vereinbaren, darin besteht die zweite Paradoxalität als „Zumutung des Lebens“,4 so Riemann.
Da sich die Antinomien dieser vitalen Strebungen nicht auflösen lassen, gehen sie mit der Erfahrung existenzieller Unsicherheit und polarer Spannungen einher. Dabei gibt es verschiedene Varianten, wie man diesen Strebungen nicht gerecht werden kann. Sie manifestieren sich in unterschiedlichen „Grundformen der Angst“, die aus den oben genannten Grundimpulsen erwachsen können: „1. Die Angst vor der Selbsthingabe, als Ich-Verlust und Abhängigkeit erlebt; 2. Die Angst vor der Selbstwerdung, als Ungeborgenheit und Isolierung erlebt; 3. Die Angst vor der Wandlung, als Vergänglichkeit und Unsicherheit erlebt; 4. Die Angst vor der Notwendigkeit, als Endgültigkeit und Unfreiheit erlebt“.5 Gemäß der psychodynamischen Logik dieser Strebungen lösen die jeweiligen Gegenstrebungen Angst aus. Um einen guten Umgang mit diesen Strebungen zu finden, ist es daher erforderlich, die widersprüchlichen Impulse immer wieder in einen Ausgleich, in ein Gleichgewicht zu bringen. Bei diesen Balancierungsbemühungen handelt es sich um dynamische Prozesse, um „die vier Grundimpulse in lebendiger Ausgewogenheit“6 als Ausdruck seelischer Gesundheit und souveräner Lebensführung in das eigene Leben integrieren und aus ihnen heraus agieren zu können. Hierzu ist es jedoch förderlich, ja unerlässlich, sich mit den grundlegenden Ängsten als Kehrseiten dieser Bestrebungen auseinanderzusetzen.
Riemanns psychoanalytisch-existenzielle Analysen hinsichtlich der Grundformen der Angst liefern einen noch immer erhellenden Verstehenszugang, weshalb das Maßhalten nicht nur in moralischer Hinsicht als eine der grundlegenden Leistungen menschlicher Lebensgestaltung gilt. Denn es dient dazu, die unauflösbaren Widersprüchlichkeiten und Gegensätze menschlicher Bestrebungen in einer Weise zu koordinieren, dass die Fähigkeit der Selbststeuerung nicht nur im konkreten Umgang mit inneren Impulsen, sondern auch hinsichtlich grundsätzlicher Orientierungen verwirklicht werden kann.
Maßhalten und die Fähigkeiten von Zielengagement und Zieldistanzierung
Die Fähigkeit zur Selbststeuerung wird in der Motivations- und Handlungspsychologie eng damit verbunden, wie man bestimmte Ziele zu erreichen vermag oder von Zielen ablassen kann, die nicht mehr lohnenswert oder realisierbar sind. Zielengagement und Zieldistanzierung gelten dabei als die zwei motivationalen Modi, um das eigene Erleben und Verhalten, die eigenen Wahrnehmungen, Affekte, Emotionen, Impulse, Fertigkeiten und Aktivitäten so zu organisieren, dass man sein Leben im Konkreten selbstbestimmt und souverän zu führen vermag. „Beim Zielengagement wird Unwichtiges ausgeblendet, Wichtiges hervorgehoben, zentrale Teilhandlungen werden bereitgestellt, die Aufmerksamkeit und Wahrnehmung ist auf Hinweis- und Auslösereize eingestellt, die Wirksamkeitserwartung ist optimistisch, mögliche Ablenkungen werden ausgeblendet.“7 Die Fähigkeit zum Zielengagement ist zentral, um angesichts unterschiedlicher Impulse, Anreize, Motive, Interessen u. a.m. ein bestimmtes Ziel zu avisieren und konsequent zu verfolgen.
Damit die existenziell-anthropologischen Balancierungserfordernisse gelingen können, bedarf es überdies der Fähigkeit, sich von bestimmten Zielsetzungen wieder zu lösen. Diese Zieldistanzierung „ist nicht einfach ein Erlahmen des Zielengagements, sondern ein aktiver Prozess […]. So wird das ursprüngliche Ziel abgewertet, Alternativziele in ihrem Wert und ihrer Erreichbarkeit hervorgehoben, der eigene Selbstwert gegen die Anfechtungen des erlebten Misserfolgs verteidigt und ganz allgemein versucht, die Zieldistanzierung nicht zum Anlass für längerfristig eingeschränkte motivationale Ressourcen werden zu lassen.“8
Damit Zielengagement und Zieldistanzierung wirksam werden können, müssen sie mit einer festen Handlungsabsicht verbunden sein. Durch eine klare Intention wird ein bestimmtes Handlungsziel verbindlich gemacht. Um angesichts unterschiedlicher motivationaler Tendenzen und situativer Faktoren eine bestimmte Absicht konsequent verfolgen zu können, bedarf es der Fähigkeit zu einer übergeordneten Regulation unterschiedlicher Motivationen und Zielintentionen. Diese Regulationsprozesse, sogenannte Volitionen, sind entscheidend dafür, „welche Motivationstendenzen bei welchen Gelegenheiten und auf welche Weise realisiert werden sollen“.9 Gemäß dem sogenannten Rubikon-Modell durchläuft die Handlungsregulation drei Phasen: (1) die Phase der Zielauswahl, (2) die Phase des Zielengagements und (3) die Phase der Zieldistanzierung bzw. der Deaktivierung von Zielintentionen.10
Phasen der Handlungsregulation
Menschen sind unterschiedlich darin geübt und imstande, diese Phasen der Handlungsregulation konstruktiv und optimal zu gestalten. „Es gibt große und bis ins Pathologische reichende interindividuelle Unterschiede in der Kompetenz bei der Orchestrierung der volitionalen und motivationalen Selbststeuerung sowie in der Passung mit situativen Gelegenheiten im Lebenslauf.“11 Die individuellen Unterschiede werden durch zahlreiche Faktoren beeinflusst. Neben biografischen Erfahrungen spielen insbesondere erworbene Erlebens- und Verhaltensmuster aus der frühen Kindheit eine wichtige Rolle. In der frühen Kindheit werden bestimmte affektmotorische Schemata des Körper-Fühlens und emotional gefärbte habituelle Bereitschaften erworben, um auf bestimmte Anreize zu reagieren und sich damit zu befassen. Diese überdauernden individuellen Motivdispositionen stellen implizite Motive dar, die durch Selbsterfahrung und Selbstreflexion bis zu einem gewissen Grade bewusstgemacht werden können. Explizite Motive dagegen sind „bewusste, sprachlich repräsentierte (oder zumindest repräsentierbare) Selbstbilder, Werte und Ziele, die sich eine Person selbst zuschreibt“.12 Je deutlicher implizite und explizite Motive in ihrer emotionalen Färbung kognitiv zugänglich sind, desto besser lassen sie sich in einer bewussten Handlungsregulation berücksichtigen und integrieren.13 Mithilfe dieser empirischen Einsichten lässt sich erhellen, was für die Ausübung maßvolles Handelns aus psychologischer Sicht erforderlich ist. Als Balancierungsleistung bedarf Maßhalten eines hinreichenden Grades an Selbststeuerung, die sowohl die Zielsetzung als auch die Regulation von Emotionen umfasst. In übergeordneten regulatorischen Prozessen, die die Grundbereitschaft des Maßhaltens überhaupt als handlungsleitende Volition setzen, wird die handlungsleitende Absicht ausgebildet, über einzelne Situationen hinweg besonnen und maßvoll zu agieren. Damit Mäßigung zu einer solchen habitualisierten Bereitschaft werden kann, bedarf es zum einen des generellen Vorsatzes, Maßhalten zu einer handlungsleitenden Maxime zu machen und zum anderen des besonderen Vorsatzes, in einer konkreten Situation maßvoll zu handeln. Hierzu sind unerwünschte Reaktionen oder Impulse zu verhindern oder zu unterdrücken, die der Zielerreichung zuwiderlaufen. Diesbezügliche Vorsätze, sogenannte Suppressionsvorsätze, können sich auf innere und äußere Ablenkungen, Stereotype und Vorurteile oder die Kontrolle starker reflexhafter emotionaler Reaktionen beziehen.14
Diese allgemeinen motivations- und handlungspsychologischen Einsichten lassen sich auch für die Praxis fruchtbar machen. Insbesondere Situationen, in denen man sich zerrissen bzw. hin- und hergerissen erlebt oder noch kein klares Ziel vor Augen und für sich ergriffen hat, wirken sich blockierend und hemmend aus und erschweren es, maßvoll und besonnen zu agieren; aber auch, wenn man in momentanen Impulsen so verhaftet oder von ihnen überwältigt ist, dass es einem schwerfällt, aus einer übergeordneten Leitperspektive heraus bewusst und entschieden zu handeln. Dabei können sich übergeordnete Leitperspektiven beispielsweise an strategischen Zielen ausrichten, etwa im Kontext von Leitung und Führung, an persönlichen Lebensmaximen, etwa in der Gestaltung von Beziehungen oder des persönlichen Gesundheitsverhaltens, oder an einer grundlegenden Lebensausrichtung, etwa im Rahmen einer gewählten Lebensform oder als lebenspraktische Spiritualität.
Das Modell des „Inneren Teams“ als praktischer Ansatz des Maßhaltens
Für die Auseinandersetzung mit konkreten Situationen und deren Bearbeitung, etwa im Rahmen von Coaching oder Beratung, in Kommunikationssituationen als Führungskraft, in pastoralen Zusammenhängen oder im Kontext von Selbst- und Beziehungsklärung, aber auch für übergreifende strategische Planungen oder im Dienste der persönlichen Weiterentwicklung stellt der kommunikationspsychologische Ansatz des „Inneren Teams“ von Friedemann Schulz von Thun ein breit erprobtes und vielfältig bewährtes Modell dar. Es kann dabei helfen, mit der Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit zwischenmenschlicher Interaktionen und mit inneren Ambivalenzen besser im Sinne einer gelingenden Kommunikation umzugehen. Nach Schulz von Thun ist „das zentrale, übergeordnete Kriterium für eine angemessene (gute, richtige) Kommunikation das Ideal der Stimmigkeit“.15 Stimmigkeit bezieht sich dabei auf den situativen Kontext wie auch auf die Person. Das leitende Kommunikationsideal besteht entsprechend aus zwei Aspekten von Stimmigkeit: authentisch und situationsgerecht. Dabei bezieht sich „authentisch“ gerade nicht auf eine situative Befindlichkeit, emotionale Impulsivität oder momentane Spontaneität. Vielmehr werden darunter die Bereitschaft und der Zustand verstanden, in Übereinstimmung mit sich selbst zu sein, identitätsgemäß zu leben: „Diese Maxime enthält mehr als eine bloße Übereinstimmung von innerem Zumutesein und äußerem Gebaren […]. Sie enthält […] das Gebot, in Übereinstimmung zu sein mit dem, was mich ausmacht, was mir wesensgemäß ist, mit dem Anliegen meiner Existenz.“16 Dies stellt eine „ständige Such- und Entwicklungsbewegung“17 dar. Analog zur Authentizität zielt Situationsgerechtigkeit darauf ab, in Übereinstimmung mit der Situation, den Erwartungen und Rollen zu agieren und dabei den übergeordneten systemischen Zusammenhang zu beachten.
Für einen praktisch-psychologischen Zugang zum Thema Maßhalten bietet das Modell des „Inneren Teams“ eine anschauliche Möglichkeit, die innere Komplexität erlebbar zu machen, die Erfahrung innerer Pluralität abzubilden und in eine Selbstklärung zu überführen. Ziel ist es, ein Verständnis für die unterschiedlichen Motive bzw. inneren Stimmen zu gewinnen und diese in ihren Bedürfnis-, Interessens- und Wertbezügen zu explorieren. Mithilfe des Bilds des „Inneren Teams“ werden diese Motive bzw. Stimmen als Teammitglieder betrachtet, denen jeweils eine charakteristische Botschaft, ein Name und ein konkretes Erscheinungsbild zugeschrieben werden kann, um sie erkundbar und fassbar zu machen. Mit der Erfahrung einer inneren Pluralität unterschiedlicher „miteinander, gegeneinander und durcheinander“ 18 arbeitender Stimmen verbindet das Modell des „Inneren Teams“ die Annahme einer inneren Führung. Demnach wird dem Menschen die grundsätzliche Fähigkeit zugetraut, Synergien zwischen den unterschiedlichen Stimmen zu erzeugen, sodass innere Konflikte, die unvermeidlich sind, erkannt und konstruktiv bearbeitet werden können. Bei solchen Selbstwahrnehmungs- und Selbstreflexionsprozessen kann die Arbeit mit dem „Inneren Team“ auch der Persönlichkeitsentwicklung und Persönlichkeitsbildung dienen. Denn je nach situativem Kontext und biografischer Lage eröffnen sich so bewusste Spielräume, angesichts innerer Ambivalenz und Pluralität souverän zu agieren. Denn bei allen biografischen und identitätsmäßigen Unbeliebigkeiten der Selbststeuerung und situativ-systemischen Erfordernissen und Notwendigkeiten – so die Annahme – lässt sich die innere Aufstellung der einzelnen Stimmen, Anteile, Motive, also der einzelnen Teammitglieder, so variieren, dass ein besseres, synergetisches Zusammenspiel dieser möglich wird.
Mit dem Ansatz des „Inneren Teams“ steht ein praktisches Modell zur Verfügung, das die Fähigkeit zur Selbststeuerung mit der Einnahme einer souveränen Position sich selbst gegenüber und den inneren Stimmen und Anteilen verbindet. Im Sinne einer „kooperative[n] Selbst-Führung“19 geht es zum einen darum, auf die einzelnen Stimmen zu hören, sie wertzuschätzen, sie miteinander ins Gespräch zu bringen, sich von ihnen beraten zu lassen und diese zu moderieren. Zum anderen bedeutet Selbstführung aber auch, „das Zepter in der Hand behalten bzw. in die Hand bekommen – und das heißt, von seiner ‚Richtlinienkompetenz‘ Gebrauch machen, Ziele vorgeben, anordnen und motivieren, Entscheidungen treffen und (nach innen und außen) verantworten.“20
Maßhalten: Mut zur Selbstbegegnung und Übernahme von Verantwortung Das Modell des „Inneren Teams“ eröffnet einen praktischen Zugang, wie man in unterschiedlichen Kontexten konkret mit Balancierungskonflikten, innerer Pluralität und Ambivalenz konstruktiv umgehen kann. Das Ideal einer authentischen und situationsgerechten Stimmigkeit lässt sich als Ergebnis eines je zu aktualisierenden Maßhaltens begreifen. Mäßigung ist dabei an übergeordneten Zielen, Überzeugungen und Werten ausgerichtet, die den regulativen Umgang mit sich selbst und den eigenen vitalen Strebungen und Impulsen orientieren und motivieren. Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion, die sich auf das eigene Erleben, die eigenen Gefühle und Gedanken und auf das eigene Agieren beziehen, sind unerlässliche Voraussetzung, um das rechte Maß zu finden. Denn es bedeutet, dass man bewusst mit den eigenen Gefühlen und Gedanken umgeht, was deren kommunikative Zurückhaltung oder Äußerung mit einschließt.21
Maßhalten ist demnach auf einen Realitätssinn angewiesen, der gerade nicht mit Verdrängen, Abtöten oder völligem Verzicht zu verwechseln ist. Vielmehr heißt Maßnehmen, angesichts der inneren Vielfalt und Ambivalenzen sowie des situativen Kontexts bewusst zu agieren, indem man sein Handeln an übergeordneten Zielen, Überzeugungen und Werten ausrichtet, um das Leben auskosten und sein Leben verantwortlich führen zu können. Damit stellt sich aber die evaluative und normative Frage nach der Qualität der handlungsleitenden und lebensorientierenden Vorstellungen. Denn Maßnehmen beinhaltet die Aufgabe, zum Augenblick Distanz zu gewinnen sowie im Entscheiden und Handeln eine übergeordnete Perspektive einzunehmen, die je nach Fragestellung sogar das Lebensganze in Betracht zieht. Die Fragen „Wer bin ich?“ und „Wer will ich sein?“, die Frage nach persönlicher Identität wird hier konkret und praktisch; sie erscheint als Ausdruck der Sorge um sich selbst. Angesichts der bleibenden anthropologischen Grundbefindlichkeit innerer Widersprüchlichkeit und eines zunehmenden Bewusstseins für die Pluralität, Heterogenität und Ambiguität äußerer Ansprüche und Erwartungen verwundert es daher nicht, wenn in den letzten Jahren eine weitere Tugend bzw. Fähigkeit in den Vordergrund drängt, um besonnen und verantwortlich, authentisch und situationsgerecht zu handeln: Ambiguitätstoleranz und Ambivalenzsensibilität. Beides steht dafür, konstruktiv und produktiv mit Mehrdeutigkeiten, Unsicherheiten und Widersprüchlichkeiten umgehen zu können. Im Mut zur Selbstbegegnung und in der Übernahme von der Verantwortung für das eigene Leben wird Maßhalten so zu einem wesentlichen Beitrag für ethische Authentizität und personale Integrität – der Grundlage für ein gutes, sinnvolles und erfülltes Leben.
Anmerkungen 01 G. Maio, Medizin ohne Maß? Vom Diktat des Machbaren zu einer Ethik der Besonnenheit, Stuttgart 2014, 196–199. Siehe hierzu auch E. Schockenhoff, Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf, Freiburg/Br. 2007, 126–131. 02 F. Riemann, Grundformen der Angst. Eine tiefenpsychologische Studie, München – Basel 332000, 11. 03 Ebd., 14. 04 Ebd., 15. 05 Ebd., 15. 06 Ebd., 17. 07 J. Heckhausen/H. Heckhausen,Motivation und Handeln. Einführung und Überblick, in: dies. (Hrsg.), Motivation und Handeln. 5., überarbeitete und erweiterte Auflage, Berlin 2018, 111, 3. 08 Ebd., 3. 09 Ebd., 8. 10 S. hierzu A. Achtziger/P. M. Gollwitzer, Motivation und Volition im Handlungsverlauf, in: Heckhausen/Heckhausen (Hrsg.), Motivation, a.a.O., 355–388, bes. 357–361. 11 Heckhausen/Heckhausen, Motivation, a.a.O., 9. 12 Ebd., 5. 13 Vgl. V. Brandstätter/J. Schüler/R. M. Puca/L. Lozo, Motivation und Emotion. Allgemeine Psychologie für Bachelor, Berlin 2018, 91–94. 14 Vgl. Achtziger/ Gollwitzer, Motivation, a.a.O., 376–381. 15 Friedemann Schulz von Thun, Miteinander reden: 3. Das „Innere Team“ und situationsgerechte Kommunikation, Reinbek bei Hamburg 2014, 15. 16 Ebd., 16. 17 Ebd., 17. 18 Ebd., 21. 19 Ebd., 122. 20 Ebd. 21 Vgl. Ph. J. Mehl, Mäßigung, in: D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Werte. Von Achtsamkeit bis Zivilcourage – Basiswissen aus Psychologie und Philosophie, Berlin – Heidelberg 2016, 95–102, hier 100.
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