archivierte Ausgabe 2/2019 |
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Leseprobe 1 |
DOI: 10.14623/wua.2019.2.53-58 |
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Kristin Weingart |
„Jakob hatte zwölf Söhne“ (Gen 35,22) |
Die Konstruktion kollektiver Identität im alten Israel |
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Von „Israel“ ist im Alten Testament viel die Rede. Angesichts der zentralen Rolle, die das Volk Israel, sein Verhältnis zu und seine Geschichte mit seinem Gott im ersten Teil des Kanons einnehmen, kann dies kaum überraschen. So weiß das Alte Testament ausführlich von Jakob/Israel, dem eponymen Erzvater zu berichten, es erklärt, was der Name „Israel“ bedeutet und thematisiert die besondere Rolle Israels im Kreis der Völker. Dafür aber, was Israel ist, was einen Israeliten zum Israeliten macht, welche Kriterien über Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zu Israel entscheiden, wie also die kollektive Identität Israels genau bestimmt ist, dafür findet sich nirgendwo eine explizite Definition.
Ist eine solche aber überhaupt nötig? Betrachtet man nur einmal die Eckpfeiler des alttestamentlichen Kanons, so scheint die Frage geradezu müßig. Das erste Buch des Kanons, die Genesis, beschreibt Israels Entwicklung von einer einzelnen Familie hin zu einer Sippe und dann zu einem Volk, dessen innere Strukturen sich aus der Jakob-Familie ableiten. Danach gliedert sich Israel in zwölf Stämme, die aus den Söhnen Jakobs hervorgegangen sind. Das letzte Buch des Kanons, die Chronik, setzt mit einer Bestandsaufnahme aller israelitischen Stämme, Sippen und Familien ein, die der Chronist in den ihm vorliegenden Texten finden konnte oder aus seiner Gegenwart kannte (1 Chr 2–9). Israelit*in ist auch hier, wer zu einem der zwölf Stämme gehört und somit über den jeweiligen Stammesvater vom Erzvater Jakob/ Israel abstammt. Auch ohne explizite Definition ist im Alten Testament klar, was Israel ist: eine Abstammungsgemeinschaft, den Nachweis der Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit liefert die Genealogie.
Genealogie, Genetik und gesellschaftliche Konstruktion
Hinter das, was in Genesis wie Chronik so selbstverständlich scheint, setzte die historisch-kritische Erforschung bereits in ihrer Anfangszeit ein großes Fragezeichen. Rasch setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Ursprünge Israels, so wie sie das Alte Testament darstellt, kaum historisch sind. Das gilt für die dargestellte Geschichte ebenso wie für das Verständnis Israels als von einem Stammvater abstammendes Zwölf-Stämme-Volk. Letzteres zeigt sich nicht zuletzt daran, dass als Stämme Israels ganz unterschiedliche Größen beieinander stehen: Protagonisten der Erzelternerzählungen, zu denen es umfängliche narrative Überlieferungen gibt (z. B. Ruben, Simeon, Joseph) und Figuren, über die man kaum etwas erfährt; Namen, die auch geografische Regionen bezeichnen (Ephraim, Dan, Juda) oder eben nicht; historisch greifbare Größen (Juda, Levi, Benjamin) und solche, die nur in den Erzählungen existieren. Schon Bernhard Luther bezeichnete daher die „genealogische Anschauungsweise“, d. h. die Rückführung aller Israeliten auf einen Stammvater und ihren Ausdruck im Stämmesystem, als eine unhistorische „Fiktion“ und meinte damit, dass es hierbei nicht um ein biologisches, also etwa mittels genetischer Untersuchungen nachweisbares Faktum gehen kann.
In der Folge verstand man das Stämmesystem in der Regel als eine Chiffre, hinter dem ein anders definiertes Gemeinbewusstsein stand – basierend auf der gemeinsamen JHWH-Verehrung und einem gemeinsamen Kult oder entstanden als Reflex politischer Gegebenheiten. M. Noths wirkmächtige (wenn auch heute kaum noch vertretene) Rückführung Israels auf eine JHWH-Amphiktyonie oder das nach wie vor sehr gängige Verständnis des nachexilischen Israel als eine Kultgemeinde (H. Donner, R. Albertz) gehören in die erste, die Identifikation des vorexilischen Israel mit dem Staatsvolk des Nordreiches (R.-G. Kratz, Chr. Levin) in die zweite Kategorie. Derartig abstrahiert konnte die Vorstellung einer gemeinsamen Abstammung dann sogar als komplette Fiktion gedeutet werden, über die sich das nachexilische Israel als Gemeinschaft neu erfand (Ph. Davies).
Mit diesem Extrem, aber auch schon mit dem Verständnis des Stämmesystems als bloßes Symbol oder Chiffre, bürstet man die alttestamentlichen Texte allerdings kräftig gegen den Strich. Diese sind schließlich keine fiktionale Literatur im modernen Sinne, die ihre eigene (Erzähl-)Welt erschaffen kann, sondern Ausdruck des Selbst-, Welt- und Gottesverständnisses ihrer Erzählgemeinschaft. Sie sind in der geschichtlichen Welt der Erzählgemeinschaft verankert und wollen in ihr und für sie Orientierung geben (man denke nur an die vielen ätiologischen Erklärungen von Ortsnamen, Bräuchen etc.). Insofern liegt es näher, auch im Stämmesystem und dem Verständnis Israels als Abstammungsgemeinschaft nicht nur den symbolischen Ausdruck für ein andersartig definiertes Gemeinbewusstsein, sondern gerade in der gegebenen Form ein Element des Selbstverständnisses Israels zu sehen.
Den Ausweg aus der Alternative biologisches Faktum oder literarische Fiktion weist zum einen die Erkenntnis, dass Codierungen kollektiver Identität zu den elementaren gesellschaftlichen Konstruktionen der Wirklichkeit gehören. Diese Codierungen strukturieren die soziale Welt einer Gemeinschaft und sind unverzichtbar für die einzelnen Individuen wie auch die Gemeinschaft als Ganze. Sie informieren und orientieren soziale Interaktionen auf grundlegende, aber zumeist unbewusste Weise. [...]
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