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Leseprobe 1 DOI: 10.14623/wua.2022.2.55-62
Dieter Funke
Zuviel des Guten?
Über die Ambivalenz neuer Tugenden: Transparenz, Korrektheit, Distanz
Dass auch in Tugenden das Laster steckt und im Zuviel des Guten das Böse lauert, hat nicht erst der Philosoph Martin Seel1 in seiner Tugendlehre hingewiesen. Bereits Paracelsus wusste, dass „[a]llein die Dosis das Gift macht“2: Zuviel des Guten bewirkt das Böse! Tugenden werden destruktiv in dem Moment, in dem sie sich von ihren Gegenpol lösen. Wer nur gut sein will und keinen inneren Kontakt zu seinen dunklen und „bösen“ Anteilen hat, droht im Guten zu verhärten und bewirkt das Gegenteil von dem, was er will. Was für die Einzelnen gilt, lässt sich auch auf derzeit gefragtes gesellschaftliches Verhalten übertragen. Dies gilt für die Tugend körperlicher Distanz angesichts von Corona und der notwendigen Aufklärung und Transparenz über sexuelle Gewalt in kirchlichen Kontext. Wenn diese neuen Tugenden aber absolut gesetzt werden und nicht mit ihrem Gegenpol verbunden bleiben, können sie das Gegenteil bewirken von dem, was sie beabsichtigen.3

Überabgrenzung und Überkorrektheit als destruktive Ideale

Virologisch gesehen ist die Abgrenzung von anderen Menschen ein Gewinn. Körperliche und soziale Distanz sind neue Verhaltensnormen geworden. Mit dem hygienisch gebotenen Abstand holt sich die Natur über das Virus zurück, was im Laufe der Geschichte verloren gegangen ist, wenn Menschen zu sehr zusammenrücken. Das Virus hat es einfach, weil die Menschheit nahe zusammengerückt ist und sich enorm vergrößert hat. Geschichtlich wurde diese Nähe mit der Seßhaftwerdung und dem Zusammenleben in Siedlungen und Städten möglich, wodurch es auch die Viren leicht hatten, von den Tieren auf die Menschen überzuspringen. Weil der Abstand unter Menschen geringer wurde, begann auch die Entstehung von übertragbaren Infektionskrankheiten. Das Zusammenrücken der Menschen führte auch zur Bereitschaft, in der Masse aufzugehen und sich einer Führungsperson zu unterwerfen. Das Schlechte im Guten!

Auf diesem Hintergrund mutet das Corona-Virus dem Einzelnen zu, mit sich allein sein zu können und Einsamkeit auszuhalten. Die erzwungene Distanz erweist sich auf der biologischen Ebene als hilfreich, auf der sozialpsychologischen Ebene ist sie ein Mangel, denn als Beziehungswesen sind wir auf Nähe – körperlich und seelisch – angewiesen. Der soziale Abstand zeitigt deshalb Symptome: Einsamkeit, Depressionen, Angst vor Isolation und Getrenntheit.4 Wir können also ein Paradox der neuen Tugend der Distanz feststellen: Einerseits erzwingt sie die Fähigkeit, mit sich allein sein zu können, andererseits ist der Erwerb dieser Fähigkeit nur durch körperliche und emotionale Nähe zu anderen zu erwerben, vor allem im Kindesund Jugendalter. Die neue Tugend der Distanz, die sich mitunter zur Manie steigert, zeigt sich gesellschaftlich nicht nur als Folge der Pandemie, sondern kirchlich auch als Reaktion auf eine falsche Nähe, wie sie in der sexuellen Gewalt zum Ausdruck kommt. Die Art, wie die Kirche die Aufklärung dieser Fälle betreibt, mutet an wie eine Kompensation des Grenzverlustes, wie er in den sexuellen Übergriffen vorliegt: Mit besonderer Rigidität soll jetzt alles transparent und mit großer Härte und Konsequenz die Distanz zu Schutzbefohlenen gewahrt werden. Massive Selbstbeschuldigungen treten an die Stelle der Sorge um die Opfer. Die sowohl virologisch als auch durch sexuelle Gewalt erzwungenen Grenzen und Distanzierungen scheinen eine Überkompensation des gesellschaftlichen und kirchlichen Grenzverlustes zu sein.

Ist z. B. ein Vater, der mit seiner elfjährigen Tochter kuschelt, bereits ein potentiell sexuell übergriffiger Täter? Oder begeht ein Priester, der in einer Freizeit einem Jugendlichen zärtlich mit der Hand über den Kopf fährt, bereits einen ersten Schritt zum Missbrauch? Keineswegs, es wäre sogar verhängnisvoll, wollte man solche notwendigen und guttuenden Kontaktbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen unter dem Verweis eines möglichen Übergriffs unterbinden. Solche Überkorrektheiten könnten ein Hinweis darauf sein, dass nicht verstanden wurde, worin das Problem des Übergriffs wirklich liegt. Dies wurzelt nämlich nicht in der berechtigten körperlichen Nähe zu Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, sondern darin, dass der Erwachsene diese Nähe sucht zur Befriedigung eigener sexueller oder emotionaler Bedürfnisse, sei es in der Form erotischer Phantasien, genitaler Erregung oder sexuellen Handlungen. Ist dies der Fall, gilt die kulturell errichtete Inzestschranke und jeder Erwachsene, der in dieser Weise gefährdet ist, tut gut daran, den Kontakt und die Nähe zu Kindern und Jugendlichen zu vermeiden.

Bei Kindern und Jugendlichen ist das anders. Bei ihnen drückt sich das berechtigte Nähe- und Bindungsbedürfnis an Erwachsene auch körperlich aus. Obwohl sie diesen nach Einsetzen der Geschlechtsreife diesbezüglich gleich sind, besteht in unserer Kultur dennoch eine Generationenschranke, die dem Erwachsenen trotz der Nähewünsche der Sozialisanden das Einhalten der Grenze auferlegt. Anders gesagt: Kinder und Jugendliche haben das Recht, diese Grenze zu überschreiten, Erwachsene, die sich in einer Eltern-, Erzieher-, Lehrer-, Priester- oder Vorgesetztenposition befinden, haben diese Recht nicht. Sie allein sind verantwortlich für das Einhalten dieser Grenze.

Der Verlust von Grenzbewusstsein führt zur Überabgrenzung


Die Fähigkeit zu dieser Unterscheidung des generationsspezifisch unterschiedlichen Umgangs mit Schutzbefohlenen haben diejenigen Erwachsenen nicht entwickelt, die ihrerseits in grenzenlosen Beziehungsverhältnissen groß geworden sind. Bei ihnen ist das Bewusstseins der Grenze zwischen dem eigenen Selbst und dem anderen nicht hinreichend ausgeprägt und sie behandeln die Schutzbefohlenen und von ihnen emotional abhängigen Jugendlichen so, als wären sie ein Teil von ihnen, über den sie verfügen können. Die Täter erleben das Opfer oft nicht als von sich getrennt und sind deshalb nicht in der Lage, das Opfer als eigenes Subjekt mit Grenzen und Rechten wahrzunehmen. Stattdessen wird es eigenen narzisstischen und sexuellen Bedürfnissen untergeordnet. Dieser Grenzverlust zeigt sich in der Unfähigkeit, den anderen und vor allem Minderjährige als von der eigenen Person unterschiedene und eigene Wesen zu sehen. Diese Fähigkeit verdankt sich der Installation einer Ich-Grenze, die uns voneinander unterscheidet und deshalb erst einen respektvollen Kontakt möglich macht. Der Verlust dieser Grenze scheint typisch für das klerikale Selbstverständnis der Kirche zu sein: das normale Volk wird den eigenen narzisstischen Machtbedürfnissen eingepasst. Diese Entgrenzung, wie sie sich in der sexualisierten Gewalt am zerstörerischsten zeigt, wird nun offenbar kompensiert durch eine rigide Überabgrenzung, die sich in sozialer Distanz ebenso zeigt wie in der Überkorrektheit der Aufklärungsbemühungen um sexualisierte Gewalt, letztlich Ausdruck eines destruktiven Reinheitsideals.

Das psychologische Konzept „Grenze“

Das Grenzkonzept stammt aus der Ich-Psychologie. Das Ich stellt den empirischpsychologischen Teil unserer Person dar. Das Ich entsteht durch Abgrenzung aus einer primären Beziehungsmatrix, welche der mütterliche Organismus bildet.5 Wie schon die biologische Geburt einen Vorgang der Trennung vom Körper der Mutter darstellt, so beschreibt die psychische Geburt einen Prozess, in dem Säugling und Kleinkind sich Schritt für Schritt als eigenes Individuum erleben, und zwar durch die Entwicklung eines Gespürs für die Grenze zwischen beiden. Wenn das Kind „mein“ und „nein“ sagen kann, ist dies ein Hinweis darauf, dass der Prozess der Grenzfindung und Ichwerdung weit vorangekommen ist. Bildlich kann man sich diesen Vorgang der Abgrenzung und Ichwerdung so vorstellen, dass am Beginn zwei Kreise, die die Grenze von Mutter und Kind symbolisieren, in weitestgehender Überschneidung existieren. Mit dem Auseinandertreten der Kreise etabliert sich eine Ich-Grenze, die Mutter und Kind zunehmend unterscheidbarer macht. Schließlich berühren sich das Ich des Kindes und das Ich der Mutter an der Außengrenze.

Die zwei Seiten der Grenze


Diese stabilen Ich-Grenzen ermöglichen es, dass es vorübergehend auch wieder zu symbiotischen Überschneidungen kommen kann, die aber dann nur einen Moment bestehen und keinen Zustand fixieren. Wer funktionsfähige Ich-Grenzen entwickelt hat, kann sie situativ flexibel öffnen und schließen. Sich emotional offen zu zeigen und seine Gedanken transparent zu machen ist passend bei Menschen, die damit umgehen können. In beruflichen Situationen ist oft taktisches Verhalten angesagt und es ist oft passender, sich zurückzunehmen und die Ich-Grenze zu schließen. Die Fähigkeit zu diesem flexiblen und situationsbezogenen Umgang mit der inneren Grenze hängt weitgehend vom intuitiven Vermögen des Einzelnen ab, eine Situation passend einzuschätzen. Der Umgang mit Grenzen, wie er sich in der Nähe-Distanz-Regulierung zeigt, hängt aber nicht nur von individuellen Fähigkeiten ab, sondern von umgreifenden gesellschaftlichen Situationen. In der Pandemie bestimmt ebenso wie in der Prävention von sexueller Gewalt eine erzwungene Überabgrenzung das Verhalten des Einzelnen: Soziale und körperliche Distanz wird zur allgemeinen Norm. Dabei ist nicht die erforderliche Abgrenzung das Problem, sondern vielmehr die Tatsache, dass der Gegenpol, die Grenzöffnung, die Nähe und Vertrautheit zu etwas Anormalem oder gar Kriminellem werden. Da wir Menschen aber körperliche und emotionale Nähe brauchen, wird die neue Norm der Distanz dann zu einem Problem, wenn beide Pole, der Nähewunsch und das Distanzierungsbedürfnis, gespalten sind.

Das Thema Grenze, Grenzauflösung oder Überabgrenzung bestimmt indirekt die kirchliche und gesellschaftliche Öffentlichkeit. Ein Beispiel sind die gegensätzlichen Positionen zwischen Impfbefürwortern und -gegnern bzw. -verweigerern. Diese Differenz entwickelt sich gerade zu einer spaltenden Grenze zwischen beiden Lagern. Es entsteht hier eine Grenze, die nicht mehr verbindet, indem sie Kontakt herstellt und Differenz ermöglicht, sondern spaltet und kontaktlos trennt. Wenn man einen Schritt weiter zurücktritt, dann kann man das Pandemiegeschehen und die Funktion des Virus als eine Art Grenzregulierung verstehen. Es erzwingt Abstand und Distanz oder umgekehrt: das Virus kann mit seinem Distanzgebot dort heilsam wirken, wo Abstand und Grenze verlorengegangen sind. Ähnlich verhält es sich mit den nicht endend wollenden Entdeckungen von Fällen sexueller Gewalt in der Kirche: Auch diese Taten, als Grenzverlust verstanden, sollen durch überkorrekte Aufklärung und soziale Distanz kompensiert werden.

Die Destruktivität von Idealen wie Transparenz und Reinheit

Die kirchliche Art von Aufklärung und Transparenz im Hinblick auf sexualisierte Gewalt ist von zwei Tendenzen gekennzeichnet: Es gibt auf der einen Seite eine fast schon masochistische Selbstanklage, Schuldübernahme („Ich bin Chef einer Täterorganisation“6) und eine rigide Haltung der Transparenzforderung, auf der anderen Seite wenig Gespür für und Einfühlung in die Opfer, dafür mehr Scham über die Befleckung des eigenen Ideals. Diese auf das eigene Selbst bezogene Scham speist sich aus eben jenem Reinheitsideal, dass psychodynamisch gesehen den kirchlichen Hintergrund bildet, auf dem die sexuelle Entgrenzung möglich wurde. Zu diesen Idealen gehört zentral das Klerikerideal der Jungfräulichkeit und Asexualität, das genau die Übergriffe begünstigt.7 Diese Ideale sind es, die Wut und Hass erzeugen, weil sie menschlich nicht gelebt werden können, vor allem von denen nicht, die sie einfordern. Dadurch wird auch das Paradox der kirchlichen Aufklärungsbemühungen verständlich. Dies besteht ja darin, dass das Offenlegen der kriminellen Handlungen, das von den Amtsträgern gefordert und an externe Agenturen in Auftrag gegeben wird, gerade das Vertrauen in die Kirche nicht stärkt, sondern schwächt. Je mehr Aufklärung und Transparenz, desto weniger lässt sich die Austrittswelle aus der Kirche aufhalten.8 Gutachten bewirken gerade nicht, Vertrauen in die Kirche zurückzugewinnen, sondern dass Menschen sich immer mehr von ihr entfernen, trotz Aufklärung. Offenbar zeigt sich die vielleicht lange zurückgehaltene und verdrängte Wut gegen die genannten kirchlichen Ideale, die sich jetzt in den massenhaften Austritten durchsetzt und die man mit Freud als „Wiederkehr des Verdrängten“ verstehen kann.

In dem Ruf nach Transparenz kommt die destruktive Wirkung, die von gespaltenen Idealen ausgeht, auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen zum Ausdruck.9 Die öffentliche moralische Entrüstung über Steuersünden, Plagiatsvorwürfe, Korruptionsverdacht, Vertuschung u. a. kommt oft so daher, als könnte den Kritikern so etwas niemals passieren. Die moralische Entrüstung, die im Gestus der weißen Weste daherkommt, ist eine Folge der Projektion des Ideal-Ichs auf Figuren der Öffentlichkeit. Dazu eignen sich Politiker als medial erzeugte Figuren besonders. Der Begriff „Politiker“ steht hier für alle in öffentlichen Belangen handelnden Personen in Bereichen wie Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Kunst und Religion.

Freud hat in seiner Schrift „Massenpsychologie und Ich-Analyse“10 dargestellt, wie in totalen Organisationen wie Militär und Kirche eine Leitfigur oder eine Symbolgestalt an die Stelle des Ichideals tritt. Die Identifizierung mit dieser Figur erlaubt es dem Einzelnen, die Sehnsucht nach starken Eltern in der Phantasie unterzubringen, bei einer Leitfigur in einer umfassenden schützenden („väterlichen“) und nährenden („müttterlichen“) Instanz aufgehoben zu sein. Durch diesen Vorgang der Ersetzung des individuellen Ichideals durch eine Instanz außerhalb bezieht der Vorgang der Massenbildung und Entindividualisierung seine Dynamik. Das Zusammenpassen der individuellen Ichideale mit dem kollektiven Ideal bewirkt weiterhin, dass die Einzelnen nun untereinander verbunden sind über die wechselseitigen Identifizierungen untereinander, denn jeder Einzelne ist jetzt Träger und Repräsentant des kollektiven Ideals. Diese so hergestellte Verbrüderung wirkt besonders in der Kirche in ihrem männerbündischen Zusammenschluss der Kleriker, die wechselseitig über das gemeinsam geteilte Ideal verbunden sind und eine elitäre Gruppe bilden. Dadurch wird die Wut des Kirchenvolkes weiter gefördert, es sei denn, sie identifizieren sich selbst mit diesem Ideal.

Diese von Freud beschriebene Dynamik wirkt besonders in gesellschaftlichen Krisenzeiten, auch außerhalb der Kirche. Die Ideale von Transparenz, Unbestechlichkeit, ideologischer und politischer Korrektheit werden auf Führungspersönlichkeiten übertragen und bewirken die Abspaltung des Unvollkommenen, Nichtidealen, Dunklen und Verborgenen, kurz dem Schatten. Damit ist das Selbstbild, welches die Öffentlichkeit über den Weg der Projektion auf die Politiker und besonders auf die Kirche überträgt, gereinigt von allem Schatten und Dunklen. Die Abspaltung des Nichtidealen aus den kollektiven Leitbildern führt dazu, dass jetzt das Unvollkommene mit Härte und Unerbittlichkeit verfolgt wird. Genau diese Dynamik scheint sich in der Reaktion auf die Offenlegung von Fehlverhalten der Verantwortlichen im Umfeld der sexuellen Gewalt herzustellen. Kirchenführer und Politiker reagieren darauf oft mit extremer Schuldübernahme oder mit Verharmlosung, Vertuschung und Rücktritt. Damit bedienen sie dann das Ideal des Vollkommenen mit einem starken Bedürfnis nach Transparenz, Kontrolle und Forderung nach moralischer Reinheit und politischer Korrektheit. Durch diese Ideale sollen Bürger und Politiker zu Glasfiguren werden, dem sich beide nur umso listenreicher entziehen.11

Überkorrektheit


Die so erzeugte Sucht nach Kontrolle, Transparenz und Korrektheit bewirkt genau das Gegenteil. Das Bedürfnis nach sinnvoller Kontrolle steigert sich zu einem beinah zwanghaften Verlangen nach völliger Durchschaubarkeit. Transparenz, eigentlich ein sinnvolles Ziel, wird so zum gespaltenen Ideal, das sich von seinem Gegenpol, dem Wunsch nach Dunkelheit und Undurchschaubarkeit, gelöst hat. Die negative Dynamik eines entfesselten Ideals bildet sich in der Sucht nach öffentlicher Transparenz und Überkorrektheit ab. In der Politik steigert sich das Bedürfnis nach sinnvoller Kontrolle bisweilen zu einem beinah zwanghaften Verlangen nach vollkommener Durchschaubarkeit. Es soll alles offen sein, es darf keine Nischen mehr geben, die nicht ausgeleuchtet werden, oft zu Lasten der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen. Ich möchte hier nicht dem Unrecht der Vertuschung das Wort reden, aber die Tendenz, ganz offen, durchsichtig und transparent zu sein, schlägt nur zu leicht ins Gegenteil um: Die Verteidiger der Transparenz werden – ohne dass sie es wollen – zu Agenten neuer Intransparenz, weil sie so rigide Ideale aufstellen, an denen der Einzelne nur scheitern kann. Diese Dynamik wird von der Systemtheorie bestätigt.12 Der Wunsch nach Transparenz, der durch Kontrolle befriedigt wird, bewirkt eine sich beschleunigende Dynamik: Er zieht immer neue Kontrollbedürfnisse nach sich, weil die Kontrolle immer weitere Dunkelheiten erzeugt, die durch neue Kontrollen ausgeleuchtet werden sollen, solange, bis das System zusammenbricht entlang der Frage: Wer kontrolliert dann aber die Kontrolleure und wer die Kontrolleure der Kontrolleure usw.?

Das Reinheitsideal

Im Bereich von sexueller Gewalt und deren Aufklärung wird in besonders dramatischer Weise der Zusammenhang von Idealen und Perversion sichtbar, vor allem in Institutionen, die ein hohes pädagogisches, moralisches oder religiöses Ideal als Leitidee verfolgen. So bildet sich in der Aufklärung sexueller Gewalt erneut das Reinheitsideal ab, das genau zum entgrenzenden Übergriff geführt hat, und zwar deshalb, weil das Reinheitsideal als vollkommene sexuelle jungfräuliche Enthaltsamkeit als höherwertig eingestuft wird als die gelebte Sexualität. Der von Klerikern geforderte Zölibat ist dabei nur die Außenseite des Problems, der dynamisch wirkende Faktor ist die höhere Bewertung der Asexualität und Reinheit. Die fatale Folge dieser idealisierenden Sicht des Jungfräulichen, wie sie sich in der Person der Jungfrau Maria widerspiegelt, besteht darin, dass die Verletzung dieses hohen Ideals als Befleckung des eigenen Kleides, also als narzisstische Kränkung, erlebt wird. Diese Befleckung scheint Papst und Bischöfe mehr zu schmerzen als das Leiden der Opfer von sexuellen Übergriffen durch Priester. Das Ideal der Reinheit bestimmte anfangs auch den Umgang mit den Folgen des Bekanntwerdens des sexuellen Missbrauchs, von einem Kardinal als „das große Reinemachen“ bezeichnet. Die befleckte Weste sollte wieder weiß werden, anstatt sich mit den Ursachen auseinanderzusetzen, die gerade im Ideal der Reinheit zu finden wären. Das große Reinemachen musste natürlich scheitern, wie sich nach 2010 zeigte, als die Zusammenarbeit mit dem berühmten Pfeiffer-Institut platzte. Die Kirche wollte es hundertprozentig richtig machen und so gründlich aufräumen, dass sie das renommierteste Institut mit der Aufklärung beauftragte, und scheiterte genau an diesem Ideal. Dieser Zusammenhang von Reinheit und sexueller Gewalt wurde in der kirchlichen Aufklärung weitgehend nicht zur Kenntnis genommen, was aber für eine echte Aufarbeitung notwendig gewesen wäre. Stattdessen breitete sich Beschämung über die Beschmutzung des auf dem Klerikerideal beruhenden Selbstbildes der Kirche und ihrer Amtsträger aus. Das Bedürfnis, diese eigene narzisstische Wunde zu lecken war offensichtlich größer als die Fähigkeit, mit den Opfern zu leiden und gemeinsam mit ihnen die Verletzung zu bearbeiten. Dies würde auch erst möglich sein, wenn die Kirche ihre eigene Wunde spüren könnte, die sich hinter dem Reinheitskonflikt um Sexualität und klerikalem Ideal verbirgt. Dann könnte sie auch daran zu leiden beginnen, und das wäre die Voraussetzung für Einsicht, Entwicklung und Heilung. Es sieht so aus, als ob dieser heilsame Leidensund Wandlungsprozess begonnen hat.

Anmerkungen

01 M. Seel, 111 Tugenden – 111 Laster. Eine philosophische Revue, Frankfurt/M. 2011.
02 Paracelsus, in: Septem Defensiones 1538, Werke Bd. 2, Darmstadt 1965.
03 Den ausführlichen Hintergrund dieser Dynamik von Idealen habe ich hier dargestellt: D. Funke, Idealität als Krankheit. Über die Ambivalenz von Idealen in der postreligiösen Gesellschaft, Gießen 2016.
04 Nach dem Institut für Demoskopie Allensbach (Umfrage 6.-10. Januar 2022) ist der Anteil derjenigen, die unter Einsamkeit und Isolation leiden, von 21 auf 36 % gestiegen, bei unter 30-Jährigen auf 41 %. Zitiert nach: FAZ vom 24.01.2022, 8.
05 Zur Ich-Bildung durch Abgrenzung vgl. D. Funke, Das Ungewisse und der innere Raum, Gießen 2021, 39–88.
06 So der Kölner Weihbischof Steinhäuser im Bußgottesdienst am 18.11.2021 im Kölner Dom.
07 Die Psychodynamik des Klerikerideals habe ich in hier ausführlich dargestellt: D. Funke, Die Wunde, die nicht heilen kann. Die Wurzeln des sexuellen Missbrauchs. Eine Psychoanalyse der Kirche, Oberursel 2010. Vgl. auch E. Drewermann, Kleriker. Psychogramm eines Ideals, Olten 71990.
08 So das Forsa-Institut in einer Befragung zum Vertrauen in die Kirche im Januar 2022.
09 Ausführliche dazu: Funke, Idealität als Krankheit, a.a.O.
10 S. Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), GW XIII.
11 Vgl. H.-J. Maaz, Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm, München 2012, 189–200. 12 Vgl. Ph. Wüschner, Szenen prekärer Sichtbarkeit. Medienphilosophische Überlegungen zur Transparenz, in: Wort und Antwort 54 (2013), 104–109.

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