archivierte Ausgabe 3/2018 |
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Leseprobe 1 |
DOI: 10.14623/wua.2018.3.101-106 |
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Agnes Lanfermann |
Angst, die Wahrheit zu sagen |
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Lügen, ein vermeintlich einträgliches Geschäft im Alltag! Jede und jeder hat schon mal gelogen, eine kleine Notlüge hier, eine andere dort, um einer Peinlichkeit zu entgehen oder eine unangenehme Reaktion zu vermeiden. Auch wollen wir nicht verletzen, so sagen wir nicht immer, was wir wirklich denken, dass er oder sie sich in den Vordergrund drängt und dass es uns ärgert.
Das Potential, „Lügen“ zu erfinden, scheint grenzenlos. Wichtig ist, dass sie einer bestimmten Geschichte folgen, wenn sie in Serie zu einem Sachverhalt verbreitet werden. Lügen können kurzlebig sein. Sie „haben kurze Beine“, wie ein Sprichwort sagt. Sie können schnell entlarvt werden, oder die Lügengeschichte wird aus eigenem Antrieb unterbrochen.
Lügen gehören zum sozialen Beziehungsfeld; sie erfüllen den Zweck, den wir uns versprechen, sei es, ein Bild von uns selbst aufrecht zu erhalten, oder uns im Vergleich zu anderen positiv ins Licht zu setzen. Lügen fällt nicht groß auf; Lügen sind strukturell in Versprechungen von Werbung, Wahlkämpfen und Präsentationen verankert. Manchmal sind es auch Teillügen, die Wahrheit verstellen oder Realitäten so anbieten, als seien sie ganz. Abspaltungen und Verdrängungen können so weit gedeihen, dass sie schon nicht mehr zur Wahrnehmung der Realität gehören. Davon betroffen sind in besonderer Weise unliebsame Realitäten, Erkrankungen, Störungen, Missbrauch, Süchte.
Lügen sind ein kreativer Fluchtmechanismus vor der Realität. Zwei Frauen, S. und E., entdeckten nach über 20 Jahren, als sie als Partnerinnen am Grabe ihres verstorbenen Freundes G. standen, dass sie nicht – wie immer beteuert – die „einzige Frau“ im Leben des Verstorbenen waren, sondern dass G. eine Wochenendbeziehung von Freitagmittags bis Sonntagnachmittag mit S. und eine Alltagsbeziehung von Sonntagabend bis Freitagmorgen mit E. hatte. Die unterschiedlichen Lebensumstände der beiden Frauen und die weit entfernten Wohnorte machten es möglich, diese Lüge als Wirklichkeit über die Jahrzehnte aufrecht zu erhalten.
E. und S. sagten, dass sie zu Lebzeiten von G. die Wahrheit, dass er noch eine andere Frau lieben würde, nicht hätten ertragen können. Auch wenn sie zuweilen einmal glaubten, einer Liebeslüge aufgesessen zu sein, weil ihnen die Geschichten und Ausreden von G. nicht immer glaubwürdig und der Realität angemessen erschienen, so hatten sie diese Ahnungen doch wieder schnell verworfen, denn sie wollten seiner Liebe Glaube schenken. Und G. setzte dem Zweifel meist ein Ende mit der Frage: „Vertraust Du mir etwa nicht? Ich liebe dich doch!“
Die Erfahrung der Liebeslüge durch einen geliebten Menschen und der eigenen Lebenslüge braucht viel Zeit zur Heilung der Wunde und zur Versöhnung mit denen, die belogen und betrogen haben, mit sich selbst und mit Gott, der diese Lüge zugelassen hat. E. und S. war klar, dass ihre Geschichte als Opfer und Täter der Lüge nicht erst mit G. begann. S. wollte dem Weg der Verwundungen durch Lügen von Beginn an nachgehen und aufarbeiten, um endlich zur Wahrheit zu kommen. Für E. kam das nicht in Frage.
Eine unglaubliche Lügengeschichte
Als Jugendliche fand S. das Familienstammbuch und entdeckte, dass ihr jetziger „Vater“, genannt „Papa“, nicht ihr biologischer Vater war. Wahrheit war vielmehr: Ihr „wahrer Vater“ – der biologische – hatte sich, so sagt sie, „aus dem Staub gemacht“, als S. drei Monate alt war. Er war zu seiner „ersten Liebe“ zurückgekehrt. Aus der Perspektive des „Vaters“ stellt sich die Sache so dar: Da die Frau seiner ersten Liebe nicht kirchlich heiraten, wohl aber Kinder haben wollte, verließ er sie. Er wollte keine Kinder ohne den Segen Gottes. So lernte er die Mutter von S. kennen. Beide heirateten kirchlich und stellten den gemeinsamen Weg unter den Segen Gottes. Er schwor ihr, dass sie seine „erste Liebe“ sei. Doch nachdem S. geboren war, konnte er diese Lüge nicht länger durchhalten, denn die kleine Tochter erinnerte ihn daran, dass er mit der Frau seiner ersten Liebe ein anderes Kind der Liebe hätte zeugen können, aber die Chance verpasst hatte. So verschwand er über Nacht.
Die Mutter von S. fühlte sich sehr verletzt. Sie erlebte sich als jemand, die einer Lüge aufgesessen und um ihr Leben betrogen worden war. Sie wollte diese Lüge auslöschen. Nie sprach sie darüber, um jeden Schmerz zu vermeiden und ihrer Tochter eine „heile Familie“ zu bieten. So heiratete sie erneut. [...]
Lesen Sie den kompletten Artikel in der Printausgabe.
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