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Leseprobe 1
Christoph Kähler
Du sollst Vater und Mutter ehren
Generationengerechtigkeit in biblischer Perspektive
Einer meiner psychotherapeutischen Freunde sprach vor einiger Zeit mit einem jungen Patienten über dessen berufliche Zukunft. Der junge Mann beschrieb die Unsicherheit, in der er steckte, und skizzierte seine künftige patch-work-Biografie, in der immer wieder der eine Job von dem anderen abgelöst werden würde – Arbeitslosigkeit zwischendurch nicht ausgeschlossen. Mein Freund schien bei aller gleichmäßig schwebenden Aufmerksamkeit, die zu seinem Berufshabitus gehört, doch eine unwillkürliche Regung gezeigt zu haben. Sie verriet, dass diese Perspektive für ihn selbst etwas Beängstigendes hatte. Da tröstete der junge Patient den älteren Arzt mit der Bemerkung: „Herr Doktor, das läuft heute nicht mehr so, wie Sie das früher gewohnt waren. Eine über Jahre gesicherte Berufslaufbahn haben wir nicht mehr vor uns.“

Natürlich war damit auch, aber nicht nur die in der Regel lückenlose Berufsbiografie von gelernten DDR-Bürgern als überholt abgetan. Zugleich jedoch gab der junge Mann eine Selbstverständlichkeit im Umgang mit den Unsicherheiten unserer Gesellschaft und Wirtschaft zu erkennen, die meinen Altersgenossen bei aller Einsicht in wirtschaftliche Zusammenhänge immer noch Mühe macht. Zugleich erklärt solche Unsicherheit, warum die Generation unserer Kinder, die heute heiraten und Kinder bekommen können, so wenig geneigt ist, sich in dieses weitere Abenteuer zu stürzen.

Das Verhältnis der Generationen untereinander ist inzwischen ein Gegenstand ernsthafter Sorgen, da der demografische Wandel in absehbaren Zeiten heftige Umbrüche mit sich zu bringen scheint und bestimmte Entwicklungen sich überhaupt nicht mehr umkehren lassen, da die Ungeborenen nicht ersetzt werden können. Insofern stehen wir mitten in einer langfristigen Debatte, die immer neue Aspekte aufweist. Die alarmierenden Schätzungen über den Bedarf an Pflegekräften einerseits und die offensichtlich fehlenden jungen Fachkräfte in Handwerk und Industrie andererseits sind nur zwei von ihnen. Dass diese Debatte klare Ziele braucht, hat Wolfgang Huber mit wünschenswerter Deutlichkeit herausgearbeitet. „Familiengerechtigkeit und Generationengerechtigkeit müssen zu zentralen Themen der heute nötigen Reform werden“ war einer seiner Kernsätze. Doch schon die Begriffe „Generation“, der der „Gerechtigkeit“ und die Zusammensetzung „Generationengerechtigkeit“ sind jeweils nicht so eindeutig, wie es scheinen mag. So sollen die sozialgeschichtlichen Voraussetzungen kurz beleuchtet werden, ehe ich zum eigentlichen Thema übergehe.

Generationen und „Familie“ in den biblischen Texten

Die Generationen lebten in den Zeiten des Alten wie des Neuen Testaments sehr anders zusammen als heute. Ihr Verhältnis war in Israel wie in den neutestamentlichen Gemeinden keineswegs per se harmonischer als das in modernen Gesellschaften. Es bedurfte ebenfalls der Aufmerksamkeit und der Pflege der Beziehungen zwischen den Generationen, wie die Fülle der alttestamentlichen Mahnungen zeigt: „Ein Auge, das den Vater verspottet, und verachtet, der Mutter zu gehorchen, das müssen die Raben am Bach aushacken und die jungen Adler fressen“, formuliert das Sprüchebuch recht drastisch.

Was haben wir als historische Realität und sozialgeschichtliche Grundform des Generationenverhältnisses in biblischen Zeiten anzusehen? Die kleinste Zelle der Gesellschaft in antiker Zeit ist nicht die „Familie“ im heutigen Sinn. Erst seitdem der französische Terminus „famille“ als Fremdwort im Deutschland des 18. Jahrhunderts benutzt werden musste, musste und wurde ein neues Phänomen, d. h. damit vor allem die uns bekannte kleine Gruppe aus Vater, Mutter, Kind, also die Zwei-Generationen-Familie, beschrieben. Sie hausen im Allgemeinen in einer privaten Wohnung, die anders als bei Bauern und auch noch bei vielen Handwerkern vom Produktionsstandort getrennt ist. Zu ihr gehören nicht mehr selbstverständlich weitere Familienangehörige (ganz zu schweigen vom „Gesinde“) und auch die Wohngemeinschaft von Verwandten mehrerer Generationen unter einem Dach bleibt selten. Die Kleinfamilie ist also nicht mehr das, was man dann später aus der Rückschau die „Großfamilie“ genannt hat, die Generationen übergreifen kann und – vor allem – mehrere Verwandtschaftsgrade auch in derselben Generation. Dieser frühere Sozialverband des „Hauses“ hat im Verlauf der Geschichte erheblich an Mitgliedern und Aufgaben verloren. [...]


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