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Leseprobe 1
Rudolf Hoppe
Jesus von Nazaret und die Volksfrömmigkeit
Zur Volksfrömmigkeit, die man nicht in verengtem Sinne verstehen sollte, gehören kulturübergreifend Wallfahrten. Heilige Orte, zu denen der Mensch pilgert und an denen er sich seiner auf die Gottheit bezogene Existenz versichert, drücken seine Suche nach sich selbst und nach Erfüllung seiner Hoffnungen aus. Wir finden Pilgerreisen und Wallfahrten im Alten Orient, in der JHWH-Religion Israels, dem nachexilischen Judentum und dem Christentum, der hellenistischen Umwelt des Urchristentums ebenso wie im Islam und dem Hinduismus.

Wallfahrten in der Religion Israels


Schon in altisraelitischer Zeit gehörten Wallfahrten zu Orten besonderer Gottesnähe zur religiösen Praxis. In der Patriarchenzeit hat Jakob in Bet-El seine Gottesoffenbarung und errichtet an jener Stätte einen Altar (Gen 35,6f), jener Ort ist auch später für die Stämme Israels ein Wallfahrtsziel (Ri 20,18). In Ri 21,2 ist Bet-El der Ort der Klage des Volkes. Wenn man so will, ist die aus Ägypten herausgerufene Mosegruppe auf ihrer Wüstenwanderung unterwegs zu ihrem Wallfahrtsziel, dem gelobten Land. War dann später nach der Einwanderung ins Kulturland JHWH nicht mehr der Gott, der das Volk auf seinem Weg begleitete und den es je neu rettend erfuhr, da es sesshaft geworden war und sein Nomadentum aufgegeben hatte, entstanden heilige Orte, an denen seine Gegenwart erfahren wurde, und dies war nach der Staatenwerdung in erster Linie das Heiligtum in Jerusalem. Mit der heiligen Stadt Jerusalem verbinden sich deshalb eine Reihe von Erinnerungsfesten. Besonders zum Fest der ungesäuerten Brote, das zum Beginn der Getreideernte im Frühjahr begangen wurde (das spätere Passafest), zum Erntefest am Schluss der Ernte und zum Fest am Abschluss der Weinlese, das spätere Laubhüttenfest, gehörten jeweils Wallfahrten zum nächstgelegenen Heiligtum, um vor JHWH zu erscheinen (Ex 23,17). Diese religiöse Praxis hatte identitätsstiftende Funktion und war Vorschrift für alle Männer.

Je mehr Jerusalem ab dem 10. Jh. v. Chr. in davidisch-salomonischer Zeit zum Zentrum israelitischer Religiosität wurde, rückte es auch als Wallfahrtsort fast ausschließlich in den Mittelpunkt. Das sah nach der Reichsteilung in das Nordreich Israel und das Südreich Juda (926 v. Chr.) auch Israels König Jerobeam I., der Bet-El als Gegenstück zu Jerusalem als ein Kultzentrum etablieren wollte. Die deuteronomische Reform unter König Josia (640–609) aber hat nach dem Fall des Nordreiches (722 v. Chr.) Jerusalem letztlich zum einzigen Wallfahrtszentrum erhoben; der König selbst hatte das Passafest, das ursprünglich im Hauskreis gefeiert wurde, zu einem Wallfahrtsfest erhoben (Dtn 16,1–8; vgl. auch den größeren Zusammenhang Dtn 16,1–17).

Ganz besonders hat sich das Wallfahrtswesen in Israel in den „Wallfahrtsliedern“ Ps 120–134 niedergeschlagen. Die heutige Forschung geht davon aus, dass es sich um einen kompositorischen Wallfahrtspsalter handelt, dem eine leitende Wallfahrtstheologie zugrunde liegt. Einige Psalmen aus diesem Komplex haben (wohl nachträglich) zur Überschrift „Ein Wallfahrtslied“ die personale Zuordnung zu David oder Salomo erhalten. Das hat nicht zuletzt autoritätsstärkende Bedeutung für das theologische Gewicht der Wallfahrtspsalmen. Hinter den Liedern stehen teilweise notvolle Erfahrungen, wenn der Beter sich denen ausgeliefert sieht, die den Frieden hassen (Ps 120,6), wenn er um den Frieden für Jerusalem bittet (Ps 122,6) oder in der Bedrängnis seine Hoffnung ganz auf JHWH richtet. Darin artikuliert sich die Stimme der Rechtlosen, die sich allein von JHWH Rettung und Schutz erhoffen. Hinter den Wallfahrtspsalmen, die wohl in nachexilischer Zeit entstanden sind, steht aber noch tiefer gehend das Interesse, Jerusalem und den Tempel als Zentrum Israels nach den verheerenden Zerstörungen von 587 v. Chr. im Volksbewusstsein zu bewahren und hier neue Orientierung mit der Vision des Friedens zu finden.

Aus nachexilischer Zeit stammt wohl auch die bekannte eschatologische Verheißung der Völkerwallfahrt zum Zion aus Jes 2,2–4: Am Ende der Tage strömen zum Haus des Herrn alle Völker, die sich von JHWH die Weisungen erteilen und die Wege zeigen lassen. Unter Aufnahme mythischer Vorstellungen vom Götterberg entwickelt der Prophet die Vision von Zion als Ort der Offenbarung der Herrlichkeit JHWHs, zu dem die Völker wallfahren. Von ihm erhalten sie die Maßgaben für ein gelingendes Leben, das Gott gefällt. Damit steht die Vision als eschatologische Verheißung in der Nähe der Weisheitslehren, die das Leben in seinen ambivalenten Abläufen verstehbar machen wollen. Wenn JHWHs Maßstäbe sich durchsetzen, ist der universale Friede geschaffen, der alle gewaltsame Auseinandersetzung zwischen den Völkern überflüssig macht. Auch die Propheten Ezechiel und Deuterojesaja sind von der Sehnsucht der Rückkehr nach Jerusalem bestimmt. [...]


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