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Leseprobe 1 DOI: 10.14623/wua.2016.3.102-108
Ulrich Reinhardt
Zur Zukunft des Freizeit- und Reiseverhaltens
Freizeit: Was ist das? Ein Geschenk des Himmels? Das Resultat harter Gewerkschaftsverhandlungen? Der Lohn für Arbeit, Fleiß und Leistung? Oder etwa der Fluch der Arbeitslosen und Ruheständler? Fest steht: Von dieser erzwungenen, erkämpften, verdienten oder geschenkten Zeit hatte die deutsche Bevölkerung noch nie so viel zur Verfügung wie heute, Tendenz steigend. Auf den ersten Blick entsteht historisch das Bild einer geradezu drastischen Freizeitrevolution: Von 60 Stunden Arbeitswoche um 1900, über die 50-Stunden-Woche in den 1950er Jahren bis hin zu der heutigen Spannbreite zwischen 35 und 40 Stunden wurde die Arbeitszeit immer weiter verkürzt. Doch trotz deutlicher Arbeitszeitverkürzungen in den letzten Jahrzehnten wächst das subjektive Gefühl, über zu wenig (Frei-)Zeit zu verfügen. Denn mit dem Verlassen des Arbeitsplatzes beginnt für Berufstätige häufig noch nicht die Freizeit. Die Zunahme von freier Zeit ist im subjektiven Bewusstsein der meisten Bundesbürger nicht angekommen. Für einen Großteil der Bevölkerung stellt (Frei-)Zeit eine kostbare Ressource dar, von der (gefühlt) nicht ausreichend vorhanden ist.

Zeit für Freizeit: Familien haben deutlich weniger, Ruheständler deutlich mehr

Betrachtet man die freie Zeit etwas genauer, bleiben an einem Werktag im Bundesdurchschnitt genau drei Stunden und sechsundfünfzig Minuten für eben jene Zeit, in der man tun und lassen kann, was man möchte. Hierbei sind zahlreiche Unterschiede zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen nachweisbar: Während bei Männern und Frauen der Unterschied lediglich zwei Minuten beträgt, haben Paare ohne Kinder im Haushalt eine Stunde mehr zu Verfügung als Paare mit Kindern. Zudem befindet sich die mittlere Generation in der Rushhour des Lebens: Arbeit, Kinder und häufig auch die Pflege der Eltern. Da bleibt wenig Zeit. Auffällig ist zudem, dass die Freizeit von Jugendlichen im Laufe der Jahre immer weiter abgenommen hat. Hauptverantwortlich sind hierfür u. a. die Einführung des Abiturs nach zwölf Schuljahren und mehr Ganztagsschulen. Hinzu kommt aber auch die steigende Anzahl von (Pflicht)Terminen wie Nachhilfe, Vereinssport oder Musikunterricht sowie der Druck, auch online ständig aktiv und erreichbar sein zu müssen.

Entsprechend haben mehr als zwei Drittel aller jungen Menschen das Gefühl, nicht genügend Freizeit zu haben. Eine Empfindung, die aber auch die übrige Bevölkerung teilt. Woran liegt das? Zwei Gründe sind hierfür ausschlaggebend: Erstens gibt es unendlich viele Möglichkeiten, seine Zeit zu verleben, und ein Ende der Angebotssteigerung ist nicht in Sicht. Und zweitens haben viele Bürger den Wunsch, ja vielleicht sogar den Druck, möglichst viel in der verfügbaren Zeit schaffen zu müssen. In Zeitnot handeln die meisten pragmatisch und verkürzen die Dauer der Aktivitäten oder kombinieren sie miteinander. So wird der Besuch von Freunden mit dem Abendessen kombiniert oder der Haushalt vor dem Fernseher erledigt. Auf diese Weise lässt sich (anscheinend) Zeit sparen. Hinzu kommt, dass kaum eine Aktivität noch länger als zwei Stunden dauert – vom Fernsehabend über den Sport bis hin zum Theater- oder Kinobesuch. Der Preis für diese Schnelllebigkeit ist oft Oberflächlichkeit – für eine langfristige, ausgiebige Beschäftigung nehmen sich viele nur noch selten Zeit. Wünschenswert (auch zukünftig) wäre hingegen ein bewusstes Zurückziehen, eine Reduzierung von Aktivitäten und ein absichtliches Verpassen ausgewählter Beschäftigungen. Denn nur so kann man dem Freizeitstress erfolgreich begegnen und Freizeit kann tatsächlich wieder zu freier Zeit werden.

Wie aber verbringen jetzt die Bundesbürger ihre freie Zeit? Betrachtet man die beliebtesten Freizeitaktivitäten des Jahres 2015, so fällt der große Anteil (neuer) Medien bei der Freizeitgestaltung auf. Nicht nur rangiert Fernsehen (seit nunmehr 25 Jahren) auf dem Spitzenplatz dieser Liste, zusätzlich stehen mit Radiohören, Zeitung lesen, Telefonieren und der Nutzung des Internets weitere mediale Aktivitäten bei den Deutschen hoch im Kurs. Diese Entwicklung wird von der Mehrheit der Bevölkerung kritisch bewertet. So stimmen mittlerweile drei Viertel aller Bürger der Aussage zu, dass die „Medienflut kaum mehr überschaubar ist“ – vor 15 Jahren waren es „nur“ 40 % die diese Einschätzung teilten. Noch besorgniserregender ist die Annahme von vier von fünf Bundesbürgern, dass durch eine, von Medien ausgelöste, Sinnesüberreizung die Aggressivität zunimmt – dieser Wert hat sich innerhalb des untersuchten Zeitraums mehr als verdoppelt. Und auch das Internet, auf das insbesondere die jüngeren Generationen nicht mehr verzichten möchten, wird zunehmend kritischer bewertet. Beispielsweise erwartet die Mehrheit der Bevölkerung eine, durch das Internet bedingte, negative Entwicklung für den Arbeitsmarkt, da hierdurch Jobs wegfallen. Besonders kritisch wird in diesem Zusammenhang auch der soziale Umgang gesehen. Für 78 Prozent steht fest: „Die zwischenmenschlichen Kontakte werden durch das Internet seltener. Die Vereinsamung nimmt eher zu“ – vor 15 Jahren betrug die Zustimmungsrate „lediglich“ 50 Prozent. Für die Bevölkerung steht hier bei fest – auch wenn durch das Internet die Kontaktaufnahme zu anderen Menschen erleichtert wird: zwischenmenschliche Beziehungen können hierdurch nicht ersetzt werden, weil die Kontakte im Netz häufig oberflächlich und beliebig bleiben. [...]


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