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Leseprobe 2 DOI: 10.14623/wua.2021.1.32-37
Walter Lesch
Ethische Überzeugungen im Konflikt mit demokratischen Mehrheitsentscheidungen
Wer sich nach bestem Wissen und Gewissen am Wettbewerb der politischen Ideen beteiligt, wird nicht immer auf der Seite der Sieger stehen. Viele mit gut überlegter ethischer Begründung und großem persönlichem Engagement vertretene Anliegen sind nicht automatisch mehrheitsfähig. Idealerweise sollte daraus kein Gefühl der Unterlegenheit und der Aussichtslosigkeit erwachsen, vielmehr ein Ansporn für weitere Überzeugungsarbeit und die Suche nach weiteren Verbündeten. Ethische Überzeugungen sind keine Störfaktoren; sie gehören zu den Voraussetzungen einer lebendigen Demokratie und sind der Gegenstand einer rationalen Verständigung über Normen und Werte. Demokratie als Lebensform einer strukturell verankerten Ethik der Gesellschaft bietet Plattformen für die Austragung eines Wettstreits der Argumente und eröffnet die Partizipationschancen, um die es schlecht bestellt wäre, wenn die rechtsstaatliche Garantie demokratisch zu legitimierender und revidierbarer Entscheidungen verloren ginge.

Ein Vorschuss an Vertrauen in die Demokratie


Demokratische Verhältnisse in Politik und Gesellschaft werden von aufgeklärten und freiheitsliebenden Menschen prinzipiell nichtdemokratischen Verfahrensweisen vorgezogen. Denn es gehört zum Selbstverständnis mündiger Bürger*innen, reflektierte Positionen in die öffentliche Meinungsbildung einbringen zu können. Gleichzeitig gibt es ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass Demokratie allein nicht alle Entscheidungsprobleme löst und dass wir auf zusätzliche Kriterien angewiesen sind, um unter demokratischen Voraussetzungen fair und gerecht zu handeln. Demokratien zeichnen sich dadurch aus, dass wichtige Beschlüsse durch die Mehrheit der Beteiligten unterstützt sein müssen. Nun ist aber die Definition des Kreises der „Beteiligten“ schon eine erste Hürde für die Zustimmung zu dem Entscheidungsverfahren. Sind es alle potenziell von einer Regulierung betroffenen Personen? Oder sind es deren Delegierte, die repräsentativ für die breite Basis sind? Im Laufe der Geschichte politischer Theorie und Praxis hat sich die Bestimmung des Zugangs zum Kreis demokratischer Akteur*innen immer als kontrovers erwiesen, sofern es vermeintliche legitimierte Mehrheiten gab, die aber nur eine privilegierte Minderheit darstellten. Zwar lässt sich insgesamt eine permanente Ausweitung der Kreise dieser Mitwirkungsberechtigten feststellen, weil viele früher praktizierte Ausschlusskriterien an Plausibilität und Legitimität verloren haben. Wie war es möglich, mehr als die Hälfte der Menschheit, nämlich Frauen, vom Wahlrecht auszuschließen? Wie konnten politische Rechte an Bildungschancen oder an Vermögen gekoppelt werden?

Es entspricht heute guter Praxis in den meisten Demokratien, Diskriminierungen abgebaut und sich der Durchsetzung des Gleichheitsgrundsatzes angenähert zu haben. Jede Stimme zählt und jede Stimme ist genau so viel wert wie die einer anderen stimmberechtigten Person. Das gilt sogar dann, wenn an dem Urteilsvermögen einiger Personen berechtigte Zweifel bestehen. Diese narzisstische Kränkung durch die Nivellierung von Kompetenzen gehörte immer schon zu den strukturellen Problemen der Demokratie und hat elitäre Sehnsüchte beflügelt. Ob es nicht doch besser wäre, Entscheidungen denen zu überlassen, die über den erforderlichen Sachverstand verfügen? Das „aristokratische“ Überlegenheitsgefühl gegenüber einer unzureichend informierten demokratischen „Masse“ ist ein bekanntes Phänomen der politischen Mentalitätsgeschichte. Ein weiteres Unbehagen bezieht sich auf den formellen Aspekt der konsequent anzuwendenden Mehrheitsregel. Jede Entscheidung, die nur mit sehr knapper Mehrheit gefällt wird, steht unter dem Druck der Enttäuschung einer signifikanten Minderheit, die vielleicht nur um Haaresbreite die Durchsetzung ihrer eigenen Anliegen verpasst hat. Bürger*innen in Demokratien sollten gelernt haben, solche Situationen „sportlich“ zu ertragen und Ergebnisse zu respektieren, die in transparenten und korrekten Verfahren zustande gekommen sind.

Zweifel an Mehrheitsentscheidungen

Während der generelle Zweifel an einer vermeintlich höheren Weisheit von Mehrheitsvoten pragmatisch als geringeres Übel im Vergleich zur Beherrschung durch Minderheiten angesehen wurde, kommen neue Irritationen dadurch auf, dass es immer schwieriger wird, Mehrheiten überhaupt zu organisieren und diesen Prozess vor manipulativen Eingriffen zu schützen. Die Kritik richtet sich gegen zwei Modelle: einerseits gegen die klare „Entweder-Oder-Frage“ (wie beispielsweise im US-amerikanischen Antagonismus von Demokraten und Republikanern oder in der Abstimmung für oder gegen den Brexit) und andererseits gegen die Ungewissheit nach einer Stimmabgabe in einer fragmentierten politischen Landschaft, in der von Anfang an zu erwarten ist, dass keine der antretenden Parteien alleine eine Regierung wird stellen können und dass mögliche Optionen für Koalitionen sich als nicht machbar erweisen werden, sodass es zu Konstellationen kommt, für die es eigentlich keine Mehrheit individueller Voten gibt. Letzteres führt zu dem viel beklagten Phänomen der Politikverdrossenheit frustrierter Bürger*innen, die sich mit den Mechanismen des Machtpokers nicht mehr identifizieren wollen. Sie betrachten ihre „abgegebene“ Stimme als eine verlorene oder zweckentfremdete Stimme. Verfahrenstechnisch legitimierte Mehrheiten haben in solchen Fällen die Aura einer direkten Abbildung des mehrheitlich Gewollten verloren, da sie sich Kräfteverhältnissen verdanken, die der Kontrolle durch die Basis entzogen sind.

Konflikte mit demokratischen Mehrheitsentscheidungen sind insofern nichts Außergewöhnliches, als diesbezügliche Klagen zur Normalität und zur Vitalität von Demokratien gehören. Die wie auch immer organisierte Mehrheit dient der Legitimation von zeitlich befristeten Mandaten, deren Ausübung keine Willkürherrschaft sein darf und die beim nächsten Wahltermin verloren gehen können. Heutige Mehrheiten sind dann in Minderheitspositionen wiederzufinden, während die jetzt noch unterlegene Minderheit künftig viel mehr Zustimmung finden wird. Solange die fairen Chancen gewahrt bleiben und niemand dauerhaft auf Regierungs- oder Oppositionsrollen abonniert ist, besteht Hoffnung, dass demokratische Machtwechsel in geordneten Bahnen stattfinden werden und die Klage über einen schleichenden Übergang zu postdemokratischen Verhältnissen übertrieben ist. [...]


Lesen Sie den kompletten Artikel in der Printausgabe.

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