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Leseprobe 2
Bernd Finke
Universalität der Menschenrechte?¹
Zwischen Relativierungsversuchen und der „Responsibility to Protect“
Menschenrechte gelten als universell, unveräußerlich und unteilbar. Gleichwohl ist der weltweite Einsatz für die Menschenrechte immer auch eine Auseinandersetzung mit vielfältigen Versuchen, die auf Universalität angelegte Reichweite des Menschenrechtsschutzes in Frage zu stellen. Dieser Aufsatz beschreibt die prominentesten menschenrechtspolitischen Relativierungsversuche („Störfaktor Menschenrechte“) sowie die Grundgedanken des neu entstehenden völkerrechtlichen Konzepts einer „Responsibility to Protect“ [=RtoP] als Anfrage an die Staatengemeinschaft, gravierenden Menschenrechtsverletzungen wirksamer vorzubeugen und im Falle kooperationsunwilliger (oder unfähiger) Regime als letztes Mittel des Menschenrechtsschutzes auch militärische Interventionen zu erwägen.

Der Universalitätsanspruch der Menschenrechte

Der Universalitätsanspruch der Menschenrechte leitet sich unmittelbar aus der Rechtssubjektivität „qua Menschsein“ ab. Als allen Menschen zustehende oder besser: angeborene Rechte müssen Menschenrechte beanspruchen, an jedem Ort der Erde, unabhängig von spezifischen Bedingungen und Entwicklungen einzelner Staaten, also eben „universell“, gültig zu sein. Dieser menschenrechtliche Universalitätsanspruch ist seit der 1948 verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte völkerrechtlich vielfach festgeschrieben worden. Im Umkehrschluss wird die hohe völkervertragsrechtliche Kodifizierungsdichte menschenrechtlicher Vereinbarungen ihrerseits als Beleg für die Universalität der Menschenrechte ins Feld geführt. Aber auch in den rechtlich (zunächst) unverbindlichen Resolutionen und Erklärungen etwa des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen in Genf oder der VN-Generalversammlung in New York ist der Verweis auf den universellen Charakter der Menschenrechte inzwischen ein fester und insofern unumstrittener Bestandteil des menschenrechtspolitischen Diskurses.

Ungeachtet eines weltweit verbreiteten völkerrechtlichen und politischen Bekenntnisses zur Universalität der Menschenrechte gilt zugleich, dass Menschenrechte weiterhin ebenso universell verletzt werden und ihr weltweiter Achtungsanspruch relativiert wird. Menschenrechte werden in vielfältiger Hinsicht als störend empfunden, etwa bei der Verfolgung von Außenwirtschaftsinteressen, im Kampf gegen den Terrorismus (Aufweichung des Folterverbots), im Zusammenhang mit Friedensbemühungen in Konfliktzonen (Stichwort: Verzicht auf die Strafverfolgung von Menschenrechtsverletzern, die angeblich als Stabilitätsgaranten benötigt werden) oder aber – und unverändert an vorderster Stelle in Sachen „Störfaktor Menschenrechte“ – aus bloßen Machterhaltungsinteressen.

Dabei wird indes, wenig überraschend, nicht auf Außenwirtschafts- oder Machterhaltungsinteressen rekurriert, sondern das „klassische“ Repertoire des Menschenrechtsrelativismus bemüht:

Dazu gehört zum einen der Verweis auf traditionelle Werte und kulturelle Eigenentwicklungen als Grenzen der menschenrechtlichen Universalitätsidee. So bringt zum Beispiel Russland regelmäßig im Menschenrechtsrat eine Resolution zum Verhältnis von universellem Menschenrechtsschutz und traditionellen Werten ein. In der Perspektive der Kulturrelativisten handelt es sich bei den Menschenrechten nicht um universell gültige Normen, sondern um partikulare ein bürgerlich-liberales, europäisch-abendländisch geprägtes Menschenrechtsverständnis widerspiegelnde Rechte, die auf andere Kulturkreise schwer übertragbar seien. Bestrebungen, diesem (vermeintlich) partikularen Menschenrechtsverständnis den Stempel weltweiter Geltung aufzudrücken, werden als Versuche eines westlichen Kulturimperialismus hingestellt.

Zum klassischen Repertoire des Menschenrechtsrelativismus gehört zum anderen der Verweis auf das völkerrechtliche Gebot der souveränen Gleichheit aller Staaten und auf das daraus hergeleitete Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten, zu denen Menschenrechte gezählt werden. Der Rekurs auf die „inneren Angelegenheiten“ hat in diesen Monaten vor allem mit Bezug auf die (Menschenrechts-) Lage in Syrien Hochkonjunktur.

Den Kulturrelativisten kann entgegengehalten werden, dass die Menschenrechte als ein „Eckstein von Weltkultur“ gelten dürfen und kulturelle Praktiken oder traditionelle Werte auf ihre Verträglichkeit mit dem menschenrechtlichen Kernbestand, vor allem aber auch auf ihre Vereinbarkeit mit völkervertragsrechtlichen staatlichen Selbstverpflichtungen zu überprüfen sind.

Den Souveränitätsverfechtern kann entgegengehalten werden, dass die Verpflichtung der Staaten, Verletzungen der Menschenrechte zu unterlassen, Menschenrechte vor Übergriffen von Seiten Dritter zu schützen und für die volle Verwirklichung der Menschenrechte Sorge zu tragen (respect, protect, fulfill) heute weltweit in einem Maße internationalisiert ist, dass die Thematisierung von Menschenrechtsverletzungen auch völkerrechtlich keine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten mehr darstellt.

Das Konzept einer „Responsibility to Protect“


Die Frage nach dem Umfang internationaler Verpflichtungen zur Einmischung in die Angelegenheit der Menschenrechte spiegelt sich auch in dem Konzept einer „Responsibility to Protect“ wider. Die RtoP-Debatte wurde im Jahre 2000 von dem damaligen VN-Generalsekretär Kofi Annan ins Rollen gebracht, als dieser anlässlich des VN-Millenniumsgipfels und vor dem Hintergrund der Erfahrung des Völkermords in Ruanda oder der ethnischen Säuberungen auf dem Balkan nach der Zulässigkeit von militärischen Interventionen in humanitären Notsituationen fragte und zugleich Militärinterventionen als letztes Mittel nicht ausschließen wollte.

Eine von Kanada einberufene Expertengruppe befasste sich in der Folgezeit mit der Ausarbeitung eines Konzepts, das die Verantwortlichkeit der Staatengemeinschaft zur Verhinderung von Völkermord und schwersten Menschenrechtsverletzungen thematisierte und – nach z. T. hitzigen Debatten zwischen den VN-Mitgliedstaaten – unter dem Titel „Responsibility to Protect“ von VN-Generalsekretär Annan in seinem im Jahre 2005 veröffentlichen Bericht „In größerer Freiheit. Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle“ übernommen und anschließend von den Staats- und Regierungschefs der VN-Mitgliedstaaten per Resolution indossiert wurde. Der Bericht stellt den Schutz der Menschen in den Mittelpunkt staatlicher und internationaler Politik und macht die Wahrnehmung der Schutzverantwortung zur konstitutiven Voraussetzung von Souveränität (Souveränität nicht als Privileg, sondern als Verpflichtung).

RtoP stand von Beginn an in Verdacht, einem militärischen Interventionismus Tür und Tor zu öffnen und den Völkerrechtsprinzipien der territorialen Integrität, souveränen Gleichheit der Staaten sowie dem Gebot der Nichteinmischung das Wasser abgraben zu wollen. Um diese Bedenken zu entkräften, ernannte VN-Generalsekretär Ban Ki-moon im Jahre 2007 einen Sonderberater für RtoP, Professor Edward C. Luck, der mit der Aufgabe betraut wurde, konkrete Vorschläge für die weitere Ausgestaltung und Operationalisierung des Konzepts zu unterbreiten. Auf Grundlage der Arbeiten von Edward Luck veröffentlichte der VN-Generalsekretär 2009 einen Bericht, in dem das RtoP-Konzept näher ausbuchstabiert und auf drei Säulen gestellt wird:

Säule 1 betont die primäre Schutzverantwortung der Staaten selbst, Maßnahmen zu ergreifen, um die von RtoP erfassten vier Tatbestände – nämlich: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und ethnische Säuberungen – zu verhindern. Säule 2 thematisiert die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, den Staaten bei der Wahrnehmung der Schutzverantwortung angemessene Unterstützung zukommen zu lassen (z. B. im Bereich des Kapazitätsaufbaus). Säule 3 schließlich befasst sich mit den Reaktionspflichten der Staatengemeinschaft, um schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen zu beseitigen bzw. zu unterbinden. Der Mitteleinsatz umfasst friedliche Zwangsmaßnahmen der Staatengemeinschaft wie Waffenembargos und das Einfrieren von Bankkonten. Als letztes Mittel kommen auch militärische Interventionen in Betracht, de-ren Autorisierung jedoch dem VN-Sicherheitsrat auf Basis von Kapitel VII („Zwangsmaßnahmen“) der VN-Charta vorbehalten bleibt.

Seit dem Sommer 2009 hat sich die VN-Generalversammlung in bislang drei Aussprachen mit der weiteren Operationalisierung des Drei-Säulen-Konzepts befasst. Dabei wurde insbesondere der Wert der Prävention betont sowie festgestellt, dass es keinen Automatismus von einer Säule zur anderen gebe und kein Vorrang einer Säule vor den anderen bestehe. Insgesamt konnte im Verlauf der Debatten ein breiter und wachsender Konsens zu RtoP festgestellt werden, auch weil deutlich wurde, dass das Prinzip der Schutzverantwortung im Wesentlichen eine Bekräftigung von bereits geltendem Völkerrecht darstellt.

Von der RtoP zur „Responsibility while Protecting“?

RtoP ist inzwischen zu einem festen Bezugspunkt in Theorie und Praxis internationaler Beziehungen geworden. Das Drei-Säulen-Konzept, wie auch die von RtoP umfassten vier Verbrechenstatbestände, finden in der internationalen Gemeinschaft breite Unterstützung. Die politische Intervention der Staatengemeinschaft in Kenia im Zusammenhang mit den blutigen Unruhen nach den Wahlen vom Dezember 2007 gilt als Beispiel für eine erfolgreiche Anwendung der zweiten Säule des RtoP-Konzepts. Die im März 2011 begonnene militärische Intervention der Staatengemeinschaft zum Schutz der libyschen Zivilbevölkerung, deren Autorisierung der VN-Sicherheitsrat ausdrücklich in den Kontext von RtoP gestellt hat, gilt gleichsam als Aushängeschild für die Anwendung der dritten Säule.

Der Verlauf der NATO-Intervention in Libyen hat aber zugleich auch den Kritikern des RtoP-Konzepts Rückenwind verliehen. Den an der Militärintervention beteiligten Staaten wird vorgehalten, die Libyen-Resolution des VN-Sicherheitsrats zu weitgehend ausgelegt und ihre Schutzverantwortung für die Zivilbevölkerung „überzogen“ zu haben – u. a. durch Waffenlieferungen an die Rebellengruppen und den durch die erfolgte Ermordung Gaddafis besiegelten Regimewechsel.

Im Lichte des Libyen-Einsatzes hat Brasilien im November 2011 eine neue Dimension in die RtoP-Debatte der Vereinten Nationen eingeführt, nämlich den Vorschlag einer „Responsibility while Protecting“. Der brasilianische Vorstoß bekräftigt zwar die Grundpfeiler des RtoP-Konzepts und die prinzipielle Notwendigkeit auch militärischer Interventionen zur Vermeidung humanitärer Katastrophen. Er betont aber gleichzeitig die Missbrauchsmöglichkeiten eines militärischen Eingreifens (konkret genannt: Regimewechsel) und plädiert dafür, den Staaten zusätzliche Pflichten und Beschränkungen bei der Ausübung der 3. Säule der Schutzverantwortung aufzuerlegen. Brasilien zählt dazu vor allem eine konkreter ausformulierte Mandatierung von Militäreinsätzen, die strikte Beachtung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit des Mitteleinsatzes sowie die vorherige Ausschöpfung aller vorhandenen friedlichen Mittel. Einen besonderen Stellenwert misst Brasilien auch der Forderung nach einer chronologischen Sequenzierung der drei Säulen bei.

Vor allem diese Forderung nach einer strikten „Sequenzierung“ gilt den Verfechtern des RtoP-Konzepts in seiner bisherigen Fassung als nicht akzeptabler Versuch, die Anwendung der dritten Säule zur Makulatur zu machen. In der Tat kann darauf hingewiesen werden, dass eine strikt an der Chronologie ausgerichtete Drei-Säulen-Regel den zumeist komplexen Konfliktsituationen am Boden kaum gerecht werden kann.

Wie geht es weiter?

Keine Frage: Der internationale Menschenrechtsschutz hat mit RtoP und – nicht zu vergessen – mit der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs deutlich schärfere Zähne bekommen. Die staatliche Schutzverantwortung und die Anerkennung des Grundsatzes, dass es eine Pflicht der Staatengemeinschaft zur Einmischung in die Angelegenheiten der Menschenrechte gibt, ist im letzten Jahrzehnt auf ein neues Niveau gehoben worden. Einen Automatismus gibt es aber nicht: Somalia und Syrien sind prominente Beispiele dafür, dass ein Konsens über das konkrete Ausmaß der menschenrechtlichen Schutzverantwortung und ihrer Operationalisierung noch nicht besteht.

Es bleibt abzuwarten, wie sich die weiteren Erörterungen im VN-Rahmen zur näheren Ausgestaltung der Responsibility to Protect und zu einer Responsibility while Protecting gestalten werden. Der künftige Konsens zu RtoP wird davon abhängen, dass es überzeugend gelingt darzulegen, dass der Fokus der Schutzverantwortung der Staatengemeinschaft auf Präventionsmaßnahmen liegt und die in der dritten Säule vorgesehene Option militärischer Zwangsmaßnahmen in der Tat das letzte Mittel ist und RtoP daher keinem vorschnellen militärischen Interventionismus das Wort redet. Die im VN-Rahmen begonnene Debatte über die Verbesserung und effektivere Verzahnung von Frühwarnmechanismen, einschließlich einer besseren Einbindung der Regionalorganisation, geht in diese Richtung.

Menschenrechtspolitik wird häufig als – eher realitätsfernes – Gutmenschentum etikettiert, und der Einsatz für die Menschenrechte gilt als Sisyphusarbeit. Zu Unrecht. Die meisten Konflikte sind Folge massiver Menschenrechtsrechtsverletzungen. Menschenrechtspolitik ist daher Realpolitik par excellence. Und was die Erfolgsbilanz angeht: Auch wenn immer wieder Krisen ausbrechen, über einen längeren Zeitraum gesehen, darf – bei allen fortbestehenden Defiziten – auch gesagt werden: es geht voran. Zu den prominentesten Erfolgsbeispielen für die universelle Verankerung der Menschenrechte zählen der Abschied von der Militärdiktatur in den Ländern Lateinamerikas, der Export von Demokratie und Menschenrechten im Zuge der EU-Erweiterungsprozesse, die historische Abschaffung der Apartheid in Südafrika, die Fortschritte beim weltweiten Kampf gegen die Todesstrafe, die jüngsten Erfolge auf dem Weg zu einer Anerkennung des Menschenrechts auf sauberes Wasser und Sanitärversorgung oder aber die Umbrüche in der arabischen Welt. Hinzuweisen ist schließlich auch auf die Einzelfälle, bei denen es – oft hinter den Kulissen – gelungen ist, die Lage bedrängter Menschenrechtsaktivisten zu verbessern.

Max Weber hat Politik definiert als „starkes langsames Bohren harter Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“. Es gibt wohl kein anderes Politikfeld, auf das diese Definition so zutrifft wie auf die Menschenrechtspolitik.

¹ Die Ausführungen geben die persönliche Meinung des Autors wieder.

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