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Leseprobe 2
Bruno Cadoré OP
Ein Wort als Echo Gottes
Eine Predigt des seligen Jean Joseph Lataste OP

Ich kann mir, liebe Brüder und Schwestern, die Stille vorstellen, die auf die erste Predigt des jungen Predigers im Gefängnis von Cadillac folgte. An jenem Tag richtete Gott sich nicht mitten aus der Flamme an sein Volk. Sondern es war ein von der Welt getrennter Ort, an dem Frauen nach ihrer Verurteilung inhaftiert waren. Sie kamen, um den Seligen Jean Joseph Lataste sprechen zu hören von der unendlichen Liebe des treuen Gottes, der sie wieder aufrichtet – sie, die nach ihrem Fehler und ihrer Verurteilung vermutlich von ihrem Leben nichts Großes mehr erwarteten. Eingeschlossen in Einsamkeit, Schuld und Schande, wird ihnen ein Wort von Gott zuteil, ihnen, die glaubten, dessen nicht würdig zu sein. Sie nahmen dieses Wort wie das Sprudeln einer Quelle lebenden Wassers auf, die alle Schande abwäscht, den Durst stillt, gekannt und geliebt zu sein, die Wunde lindert, einen Fehltritt begangen, das Schlimmste getan, Verrat begangen zu haben. Als sie den Kopf hoben – „wie Blumen nach dem Sturm“ – fühlten sie den väterlichen Blick Gotts, der sie nicht auf das reduzieren wollte, was sie getan hatten, sondern der sie – ganz einfach – viel mehr empfangen und lieben wollte, so wie sie heute waren.

Ein Wort als Echo Gottes

Und siehe: Sie finden langsam Sicherheit, bewegt durch das unerhörte Vertrauen dessen, der ihr Vater ist. Wo ist ein Volk, das wie du die Stimme Gottes mitten in der Flamme gehört hat, fragte die Schrift? In Cadillac, an jenem ersten Tag der Exerzitien, vollzieht sich die Offenbarung im Herzen der Stille eines Gefängnisses, in der Nacht des Vergessens und der schmerzhaften Erinnerung an die Verbrechen. Die Offenbarung folgt dem Weg der Stimme, die sich an die Gefangenen richtet: „Meine lieben Schwestern …“. Diese Worte sind das Echo der Stimme eines Gottes, der sich ein Volk erwählt, oder radikaler, der wissen lässt, dass Er sich kein Volk wählen kann, ohne diese durch das Urteil der Menschen verurteilten Frauen mitzunehmen. Die Stille der Isolation und der Einsamkeit ist plötzlich ersetzt durch die vertrauensvolle Stille dessen, der sich auf die Liebe verlässt und aufs Neue das Leben wagt, aufs Neue an eine Zukunft glaubt, die ihm versprochen ist, weil die Zukunft nicht das Gesicht des Vergangenen haben muss. Im Herzen dieser Stille klingen die Worte des jungen Predigers: ein unerhörter Appell an eine völlig neue Freiheit.

Ja, in diesem Gefängnis, vielleicht am Ende schrecklicher innerer Kämpfe, Widerstände, enthusiastischen Elans, des Zweifels und der beschämenden Erinnerung –in diesem Gefängnis richten sich die Worte des jungen Predigers an die Gefangenen und bringen einen Gott zu Gehör, der keinem anderen gleicht und der sich an sein Volk richtet, um es aus der Entfremdung zu ziehen und ihm die Freiheit zu schenken.

Ein Wort der Freiheit und der Liebe

Ich stelle mir diese Stille vor, Brüder und Schwestern, die der Selige Jean Joseph Lataste mit den Gefangenen in den langen Stunden der Anbetung des Allerheiligsten Sakraments ausdehnen möchte. Bruder Jean Joseph ist wahrlich ein Prophet, nicht nur, weil er im Namen Gottes ein Wort der Barmherzigkeit ausspricht, sondern weil er uns einlädt, aus Seiner konkreten Gegenwart zu leben. Diese Stille der Anbetung hat Kraft und eine Dichte wie das Wort Gottes. Der Sohn kommt in unsere Mitte, gibt sein Leben für uns, und seine Gegenwart bricht in uns ein, um in unseren Herzen einen Weg zu öffnen, durch den wir lernen, Gott unseren Vater zu nennen. Er kommt auf eine Weise, um in unserem Leben das Feuer des Geheimnisses der Heiligsten Dreifaltigkeit zu entfachen. Und Leben und menschliche Gesichter werden dadurch verändert.

Dieses Wort muss einen Weg zurücklegen bis zum Kern unserer Dunkelheiten. Es muss die Entfremdungen überwinden, die uns von uns selbst abschließen: unser Scheitern und unsere Fehler, unsere Komplizenschaft mit der Sünde, unsere mangelnde Hoffnung. Das Wort kommt diskret zu uns, um uns aufs Neue für die Freiheit geboren werden zu lassen. Die Wahrheit des Wortes, paradoxerweise still, ist auf diese Weise viel radikaler und wahrer als alles Geschwätz: Gott ist Liebe, einzig und vollständig Liebe. Und das ist alles. Oder vielmehr, Er ist die vollkommene Liebe, wie man sie sich nicht vorstellen könnte. Geschenkte Liebe, von jemandem, der, um zu lieben, sich selbst an jeden ohne Vorbedingungen gibt.

Gott ist Liebe und nähert sich jedem von uns auf dezente Weise. Angefangen bei jenen, die glauben könnten, dass sich niemals jemand für sie interessieren wird. So viele Gesichter kommen uns in den Sinn, wenn wir dieses Geheimnis der Barmherzigkeit betrachten. Da ist dieser junge Freund, besessen von einer Macht, die er nicht zu beherrschen weiß, und die ihn leiden lässt, weil sie ihn beherrscht und gleichzeitig entsetzt. Nun hört er, dass er ein erwarteter Sohn ist, der von jenem geliebt wird, durch den er sich verurteilt glaubte. Da ist die frohe Gemeinschaft der Gefangenen von Norfolk, die, einst verurteilt, vielleicht bereits seit langem eingesperrt, sich dennoch frei fühlen, weil ihnen vergeben und sie vom Vater empfangen wurden, der, was sie sich nicht vorzustellen wagten, bereits zu ihnen unterwegs ist. Da ist auch jener vom Leben erschöpfte Freund, der nach vielem Versagen nicht mehr zu glauben wagt, bis er eines Tages entdeckt, dass es sinnlos ist, sich selbst zu verurteilen, weil er aufs Neue die Vergebung erfahren und als Gottes Kind anerkannt werden kann. Und weiter, da sind wir alle, Schwestern und Brüder, eingeladen in die Stille jener Anbetung der Gefangenen von Cadillac. Eingeladen, mit allen Brüdern und Schwestern des Seligen Jean Joseph, jenseits unserer Versagen und unserer Untreue, alle sind wir gerufen, den Kopf zu heben und als Kinder Gottes zu leben.

Ein prophetisches Wort

Im Herzen jener Stille von Cadillac war der Selige Jean Joseph ein Prophet. Als „Apostel der Gefängnisse“ war er ein Prophet, weil er an die Gefangenen von Cadillac von Gott her ein Wort der Barmherzigkeit und der Genesung richtete. Mehr als eine an sie gerichtete Botschaft, nämlich Worte, die den Weg eines neuen Lebens ankündigten, wie Jesus es für Nikodemus, den Blindgeborenen, Maria Magdalena, die Samaritanerin getan hatte. Seit der Nacht von Cadillac war der Selige Jean Joseph ein Prophet, vor allem weil er den Mut hatte, diese „geringen Frauen“ einzuladen, Zeichen dieses Versprechens von Gottes Freundschaft zu sein. Einer Freundschaft, in der alle gemeinsam leben können, ohne Ansehen der Person, ohne Urteil und ohne Vorbedingungen, außer jener der extremen Diskretion, die jeder die Freiheit garantiert. Nicht nur die Freiheit, nicht verurteilt und auf die Vergangenheit reduziert zu werden, sondern mehr noch die Freiheit, geliebt zu sein.

Aber im Herzen dieser Gemeinschaften – die sehr den unseren gleichen – war Bruder Jean Joseph auch Prophet, indem er von der Rehabilitation sprach. Sicher, dies war ein Wort des Evangeliums: Niemand kann endgültig im verletzten Bild seiner selbst eingeschlossen bleiben. Aber es war auch, ebenso wie evangelisch, eine politische Botschaft: Was wäre eine menschliche Gesellschaft, die nicht bereit wäre, sich selbst in Frage zu stellen und aufs Neue denen, die sie ausgeschlossen hat, einen Platz zu geben?

Diese politische Botschaft, gerichtet an menschliche Gesellschaften, ist prophetisch, weil sie über die ureigene Idee menschlicher Würde in menschlichen Gesellschaften spricht. Wenn er von Rehabilitation redet, die einzelnen Gefangenen übersteigend, spricht er von der ganzen Menschheit, die sich auszeichnet durch das Maß, mit der sie vergibt – solange sie auf die opferbereite Liebe als Stärke in Gemeinschaft hört und ein Signal von Gemeinschaft, die gebildet wird und gegründet ist auf Gottes Freundschaft unter den Menschen, senden möchte.

Ein Wort der Freundschaft


Die Freundschaft Gottes … Der Selige Jean Joseph sagte vom Heiligen Dominikus, dass er den Predigerorden als Orden gründen wollte, der „Freund Gottes“ ist. Und er sagte von Bethanien, diesem Werk, für das wir heute danken, dass es dominikanisch sei oder dass es nicht sein werde. Ich erlaube mir, heute zu sagen, dass, wenn es Bethanien nicht gäbe, dem Predigerorden etwas Wesentliches fehlen würde. Diesem Orden, der Freund der Menschen sein will, um allen zu verkündigen, dass sie durch die größere Freundschaft Gottes gerettet sind. Diesem Orden des heiligen Dominikus, der das Wagnis seiner Predigt aus der Quelle der Barmherzigkeit schöpfen möchte. Der barmherzigen Freundschaft Gottes, eines Tages empfunden wie Balsam in der Prüfung, ein Licht in der Nacht, eines Tages, in Cadillac.

Aus dem Französischen von Sara Böhmer OP, Thorn (NL) 

B. Cadoré hielt diese Predigt am 3.6.2012 in Besançon; die deutsche Übersetzung ist der Website http://www.bethanien-op.org/Seligsprechung/Sonstiges/Predigt_P.%20Bruno.pdf entnommen [Anm. der Schriftleitung].


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