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Leseprobe 2
Hans Waldenfels
„Inkarnation“ in anderen Religionen
Ein religionswissenschaftlicher Blick
„Inkarnation“ heißt wörtlich Fleischwerdung. Im Christentum findet der Begriff eingegrenzt auf die Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth Verwendung. In Jesu real existierender Menschlichkeit nimmt der unendliche Gott damit eine endliche, in Raum und Zeit bestimmbare Stelle in der Geschichte der Menschheit ein. Folglich sind Materialität (reale Körperlichkeit), Historizität und Begrenztheit Wesenseigenschaften der christlich verstandenen Inkarnation.

Einmaligkeit der Inkarnation?

Nun ist in der Zeit bewusster Beschäftigung mit anderen Religionen die Frage berechtigt, ob die Inkarnation Gottes wirklich so einmalig ist, wie Christen es behaupten. Ist Gott nicht auch in anderen Religionen sichtbar erschienen? Und warum sollte sich die Inkarnation Gottes nicht auch an anderen Orten und zu anderen Zeiten der Geschichte ereignet haben?

Greift man hier auf die großen religionswissenschaftlichen Enzyklopädien zurück, stößt man allerdings auf ein interessantes Ergebnis. Sowohl die auf James Hastings zurückgehende Encyclopedia of Religion and Ethics (erstmal erschienen 1914) als auch die von Mircea Eliade herausgegebene Encyclopedia of Religion enthalten große Überblicksartikel zum Thema „Inkarnation“ und Materialien quer durch die Religionsgeschichte. Doch wird auch vermerkt, dass es bis heute keine umfassende Darstellung der „Inkarnation“ in den Religionen gibt . Hier stellt sich dann die Frage: Ist der Begriff aus dem Raum des Christentums einfach in die Welt anderer Religionen übertragen worden, oder hat das Christentum selbst sich den Begriff von anderswoher zueigen gemacht? Die Antwort erscheint offen. Wenn man sich neuere deutsche religionswissenschaftliche oder theologische Lexika anschaut, die sich für die Welt der Religionen geöffnet haben, verspürt man eine deutliche Zurückhaltung. Entweder fehlt ein entsprechender Artikel, oder Daten der Religionswissenschaften bleiben unberücksichtigt. [...]


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