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Leseprobe 2
Martin Tamcke
Das orientalische Christentum und seine Vielfalt
Als die Araber im 7. Jahrhundert den Vorderen Orient, Nordafrika und den Mittleren Osten eroberten, da fanden sie überall das Christentum als religiöse Kraft vor, im Persischen Reich als ständig wachsende und einflussreiche Minderheit vorrangig in Gestalt der Apostolischen Kirche des Ostens, im Römischen Reich als staatstragende Mehrheit, und schließlich in Gestalt derer, die sich von der Staatsreligion auch in Verbindung mit den Völkern des Vorderen Orients von der griechisch-römischen Herrschaft zu emanzipieren suchten: den Kopten in Ägypten, den Nubiern im südlich daran anschließenden Raum, den Syrern, die sich heute oft als Aramäer bezeichnen, im Bereich des fruchtbaren Halbmonds auf römischer Seite und den Armeniern. Äthiopier, Eriträer und Thomaschristen gehören heute zusätzlich zu dieser Kirchenfamilie. Die Bemühungen Roms, mittels Unionen wieder Fuß zu fassen in diesen Regionen, führten schließlich allerorts zur Errichtung von mit Rom unierten Kirchen (Koptisch-katholisch, Äthiopisch-katholisch, Armenisch-katholisch, Syrisch-katholisch, auch Syrianer genannt, Chaldäer, schon zuvor die Maroniten, Malabaren und Malankaren bei den Thomaschristen).

Dieser Prozess erlebte im 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt, zu der Zeit also, in der die westlichen Missionen sich im Orient mit großem Erfolg etablierten und zu fast allen christlichen Ethnien auch protestantische Kirchen entstanden. Alle diese christlichen Völker verwenden heute neben ihren angestammten Sprachen das Arabische, besonders aber die Angehörigen der Rum-orthodoxen Kirche, deren Gläubige die Nachfahren der alten Staatskirche in Gestalt der Patriarchate Alexandria, Jerusalem, Konstantinopel und Antiochia (heute mit Sitz in Damaskus) sind und deren mit Rom unierter Zweig heute als „melkitisch“ bezeichnet wird. Die Bezeichnung wurde einstmals für die Anhänger der Staatskirche verwendet und ist von melek, König, abgeleitet. Bei den Armeniern, den Syrisch- Orthodoxen, den Angehörigen der Apostolischen Kirche des Ostens (den Altkalendariern mit ihrem Patriarchen in Bagdad wie der Hauptkirche mit ihrem Patriarchen in den USA) wird die ethnisch-religiöse Identität auch durch die Verwendung der eigenen Sprache gesichert. In allen Kirchen dient die Kirchensprache als weiteres Identitätsmerkmal für die kulturell-kollektive Identität: das Altäthiopische (Ge’ez) und das Koptische etwa begegnen nur noch dort. Im Alltag haben moderne Sprachen bei Äthiopiern und Eriträern diese Stelle eingenommen. Doch auch das moderne Amharisch oder das Tigre sind zugleich weithin dadurch gekennzeichnet, dass sie eine christliche Literatur hervorgerufen haben. Bei Maroniten und Kopten existieren Syrisch und Koptisch noch als Liturgiesprachen, werden aber im Alltag nicht mehr gesprochen. Die Frage nach dem Stellenwert des Arabischen löst bis heute nicht nur unter den Kirchen heftige Debatten aus, sondern auch im Dialog mit der muslimischen Umwelt.

Noch Jahrhunderte nach der Eroberung durch die Araber waren die betroffenen Regionen mehrheitlich von Christen bewohnt, waren noch „christliche“ Sprachen im Amtsgebrauch. Hoffnungslose Aufstände etwa der Kopten gegen ihre Besatzer, überhohe Steuerabgaben zur Sanierung besonders der Militärhaushalte und die Diskriminierung der Christen als Bürger zweiter Klasse, die als sogenannte Schutzbefohlene den Interessen der muslimischen Herrschaftsschicht ausgeliefert waren, führten aber überall zu anhaltenden Konversionsbewegungen. [...]


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