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Leseprobe 2 |
DOI: 10.14623/wua.2019.3.156-162 |
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Volker Küster |
Eine protestantische Theologie der Passion |
Minjung-Theologie heute |
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Die Minjung-Theologie ist in den 1970er-Jahren im Widerstand gegen die südkoreanische Militärdiktatur entstanden.1 Als Christen stellten ihre Protagonisten eine Minderheit in einer größeren säkularen Emanzipationsbewegung dar, die für Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und Demokratisierung sowie für nationale Selbstbestimmung und Wiedervereinigung ihres geteilten Landes stritt. Die sinokoreanische Bezeichnung setzt sich aus den Silben Min Volk und -jung Masse, also „Masse des Volkes“, zusammen.
Minjung-Theologie revisited
Von Beginn an herrschte ein großes Pathos, dass dieser Begriff auf einer spezifischen koreanischen Erfahrung beruhe und darum unübersetzbar sei. Auch ließe er sich in keine Definition zwängen. Der der Minjung-Bewegung nahestehende Soziologe Han Wan-Sang hat sich trotzdem an einer Arbeitsdefinition versucht; Minjung sind diejenigen, „die politisch unterdrückt, wirtschaftlich ausgebeutet, sozial entfremdet und in kultureller und intellektueller Hinsicht im Stand des Unwissens gehalten werden“.2 Ob die Intellektuellen selbst dazu gehören, wenn sie inhaftiert und gefoltert werden, war umstritten.
Da es um die Leiden des koreanischen Volkes durch die Geschichte und um Wiedervereinigung des geschundenen Landes geht, hatte das Ganze von Anbeginn an nationalistische Obertöne. Allerdings sind diese im Kontext der Unabhängigkeitsbewegungen der Dritten Welt zu hören. Korea war jahrhundertelang chinesisches Protektorat, bevor es nach den geopolitischen japanisch-chinesischen (1894/95) und russisch-japanischen (1904/05) Kriegen 1905 zunächst zum japanischen Protektorat erklärt und 1910 annektiert wurde. Anders als die chinesische Hegemonie, die sich größtenteils auf Symbolpolitik wie jährliche Tributgesandtschaften an den chinesischen Kaiserhof beschränkte, führten die Japaner ein brutales Regiment, dass den Koreanern nicht nur die japanische Sprache als Nationalsprache und die Shinto-Staatsreligion aufzwang, sondern schließlich sogar versuchte, ihnen japanische Namen zu geben. Tausende junge Koreanerinnen wurden als euphemistisch sogenannte Trostfrauen in die Prostitution für die japanische Armee gezwungen. Ferner wurden hunderttausende Koreaner und Koreanerinnen als Zwangsarbeiter*innen für die japanische Kriegsindustrie rekrutiert. Eine öffentliche Anerkennung der Schuld oder Entschuldigung der japanischen Regierung hat es nie gegeben, geschweige denn Entschädigungszahlungen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Asien hofften die Koreaner auf Unabhängigkeit und nationale Selbstbestimmung, stattdessen wurde das Land dauerhaft entlang des 38. Breitengrades zwischen den beiden neuen Machtblöcken des beginnenden Ost-West-Konfliktes geteilt. Diese Grenze erwies sich als dichter wie der sprichwörtliche Eiserne Vorhang in Europa. Einzig z. Zt. der Sonnenscheinpolitik 1998–2003 von Friedensnobelpreisträger Präsident Kim Dae-Jung (1924–2009) gab es ein kurzes Zeitfenster der Öffnung, mit einer Sonderwirtschaftszone in Kaesong und der Möglichkeit von Familienbegegnungen und Tourismus in dafür ausgewiesenen Zonen. Der geschilderten jahrhundertelangen historischen Leidenserfahrung begegnete die Minjung-Bewegung mit einer radikalen Umwertung, wenn sie das Volk zum Subjekt der Geschichte erhebt.
Die Minjung-Theologen der ersten Generation haben im Ausland studiert, die älteren zunächst noch an Universitäten der Kolonialmacht Japan, dann aber in den USA bzw. Kanada und der Neutestamentler Ahn Byung-Mu (1922–1996) in Deutschland. Ahn hatte als Autodidakt Griechisch gelernt und die Schriften von Rudolf Bultmann gelesen. Da dieser schon emeritiert war, ging er zu dessen Schüler Günther Bornkamm nach Heidelberg. Zurück in Korea distanzierte er sich angesichts des sozioökonomischen und politischen Kontextes von der Formgeschichtlichen Schule. Im ochlos, der Volksmenge, die zusammenläuft, wo immer Jesus auftritt, identifizierte er eine konkrete soziale Gruppe, die entwurzelte Unterschicht Galiläas, statt sie im Sinne von Martin Dibelius analog zu einem antiken Chor zu verstehen, der Jesu Taten orchestriert.3
Ahns Interesse am historischen Jesus gilt bei näherem Hinsehen dem in der Geschichte gegenwärtigen Jesus Christus. Sein Diktum, dass die Minjung-Theologen „im leidenden Minjung dem leidenden Christus begegnet [sind]“4, ist das kreuzestheologische Rückgrat der Minjung-Theologie. Entsprechend betont Ahn gegen Bultmann: „Am Anfang stand das Ereignis, nicht das Kerygma.“5 Die Geschichten über das Jesus-Ereignis wurden ursprünglich vom ochlos, dem galiläischen Minjung, in Form von Gerüchten verbreitet, der bevorzugten Kommunikationsform in Zeiten der Unterdrückung. Die Selbstverbrennung des Textilarbeiters Jeon Tae-Il (1948–1970) oder der Foltertod des Studenten Park Jeong-Chul (1964–1987) sind Minjung-Ereignisse, die für das Jesus-Ereignis transparent werden. Diese Identifizierung von Jesus und Minjung hat zu kontroversen Diskussionen mit deutschen Theologen wie Jürgen Moltmann und der theologischen Kommission des Evangelischen Missionswerkes in Hamburg (EMW) geführt. Dies ist letztendlich jedoch eine Frage der Hermeneutik. Die Leidensgegenwart Gottes in Jesus Christus hat für die Minjung-Theologie eine identitätsstiftende Funktion, das Minjung hat eine unhintergehbare Würde vor Gott und den Mitmenschen auch kontrafaktisch zu seinen Lebensverhältnissen in Armut und Unterdrückung. Zugleich sind Minjung-Ereignisse, in denen Einzelne stellvertretend das Leiden des Volkes verkörpern, als imitatio Christi zu deuten. Dies alles sind traditionelle christliche Deutungskategorien. Verkürzt auf die Gleichung Jesus ist Minjung, Minjung ist Jesus, mögen sie sensationalistischer klingen, als sie sind.
Ahns systematisches Alter Ego, Suh Nam-Dong (1918–1984), spricht in diesem Zusammenhang von zwei Traditionen, die ineinander fließen: die christliche und die Minjung-Tradition Koreas, wobei er gegen den Neutestamentler den Primat des Kontextes über den Text betont: „Es ist die Aufgabe der koreanischen Minjung-Theologie zu bezeugen, dass in der Mission Gottes [Missio Dei] in Korea die Minjung-Tradition des Christentums und die koreanische Minjung-Tradition zusammenfließen. Dazu ist es erforderlich, an den Ereignissen, die wir für Gottes Eingreifen in die Geschichte und die Arbeit des Heiligen Geistes halten, teilzunehmen und sie theologisch zu interpretieren.“6
Dabei sind Geschichten (stories) des leidenden Volkes für Suh von zentraler Bedeutung. „Han“ ist dabei ein weiterer koreanischer Begriff, der vom Pathos der Unübersetzbarkeit umflort ist: „Han ist ein Grundgefühl des unterdrückten koreanischen Volkes. Es ist auf der einen Seite ein Konglomerat von Defätismus, Resignation und Verzweiflung der Schwachen, manchmal ‚sublimiert‘ in großartiger Kunst. Andererseits aber ist es der explosiv wirkende Mut und Lebenswille der Schwachen, der in den Revolten und Revolutionen des im han zerrissenen Minjung zum Vorschein kommt.“7
Die Orientierung an stories ist ein verbindendes methodologisches Merkmal der ersten Generation der Minjung-Theologen. Kim Yong-Bock (*1938) spricht in diesem Zusammenhang von der Sozialbiographie des Minjung: „Der gegenwärtig einzige Weg, die Sozialbiographie des Minjung zu verstehen, ist, ihm in Dialog und Partizipation zu begegnen und es seine eigenen Geschichten erzählen zu lassen. […] Das Konzept der Sozialbiographie umfasst die subjektiven Erfahrungen des Minjung ebenso wie die objektiven Bedingungen und Strukturen und die gesellschaftlichen Machtverhältnisse.“8
Anders als die lateinamerikanische Befreiungstheologie haben sich die Minjung-Theologen bewusst gegen die marxistische Gesellschaftsanalyse entschieden. Viele von ihnen sind vor den Kommunisten aus dem Norden des Landes geflohen, der ursprünglich stärker christianisiert war. Die von nordkoreanischen Christen gegründeten Gemeinden im Süden wurden dann zu einer Art landsmannschaftlicher Auffangstellen, die das Kirchenwachstum beförderten. Gleichzeitig hatte General Douglas MacArthur (1880–1964) die presbyterianische Kirche in den USA aufgefordert, Missionare nach Südkorea zu schicken, um ein christliches Bollwerk gegen den Kommunismus zu errichten. Die Entwicklungsdiktatur von General Park Chung-Hee (1917–1979; 1963–1979) setzte auf den Anti-Kommunismus als Ideologie. Kim Yong-Bock konterkariert diesen politischen Messianismus mit messianischer Politik, die aus dem Subjekt-Sein des Minjung erwächst und sich in der 1.-März-Unabhängigkeitsbewegung (1919) gegen die japanische Kolonialherrschaft manifestiert, aber auch schon im Donghak-Bauernaufstand gegen die Japaner (1894) und in der gegenwärtigen Demokratisierungsbewegung gegen die Militärdiktatur. Sie ist in den messianischen Minjung-Traditionen wie dem Maytreya-Buddhismus, der Donghak-Religion, aber auch dem christlichen Glauben an die Gegenwart Jesu Christi im Leiden des Volkes gegründet.9 Das koreanische Christentum ist demgegenüber in seiner überwiegenden Mehrheit noch stets konservativ bis fundamentalistisch und strikt antikommunistisch. Gleichzeitig eint die koreanischen Christen der Wunsch nach Wiedervereinigung ihres Landes über alle Lager hinweg.
Die Hervorhebung der engen Beziehung zwischen Jesus und Minjung, eine kooperative theologia crucis, die Verknüpfung der biblischen mit der koreanischen kulturell-religiösen Tradition, story telling sowie eine Geschichtsschau, die das Minjung zum Subjekt erhebt, sind das bleibende Erbe der ersten Generation der Minjung-Theologen. Darin wird das Profil einer protestantischen Befreiungstheologie erkennbar.
Minjung-Theologie angesichts kontextueller Transformationsprozesse
Die profiliertesten Vertreter der zweiten Generation sind der langjährige Mitarbeiter von Ahn am Koreanischen Theologischen Forschungsinstitut, der Sozialethiker Kang Won-Don (*1955), und der Systematiker Kwon Jin-Kwan (*1952), ein Schüler von Suh Nam-Dong am Institut für Missionsausbildung (Mission Education Center)10, die beide bis heute aktiv sind. Kang wurde in fortgeschrittenem Stadium seiner theologischen Karriere 1998 in Bochum bei Günther Brakelmann mit einer Arbeit zum ökologischen Arbeitsbegriff promoviert.11 Er beschäftigt sich heute mit den Auswirkungen von Globalisierung und Empire und der Frage, was das für die Fortschreibung der Minjung-Theologie im 21. Jh. bedeutet.12 Im Unterschied zur ersten Generation sympathisiert er dabei durchaus mit (neo-)marxistischer Gesellschaftsanalyse. Kwon hat seine Doktorarbeit „The Emergence of Minjung as the Subjects of History. A Christian Political Ethic in the Perspective of Minjung Theology” 1990 an der Drew Universität in New Jersey, USA, abgeschlossen. Das Subjekt-Sein des Minjung, die Bedeutung der stories und die Pneumatologie sind Themen, die schon seinen Lehrer Suh beschäftigten und die Kwon weiterverfolgt.13
Chung Hyun-Kyung (*1956), die durch ihren Vortrag bei der 7. Vollversammlung des Weltrates der Kirchen in Canberra 1991 bekannt geworden ist, bezeichnet sich selbstbewusst als ‚Befreiungstheologin der zweiten Generation‘14. Sie erlaubte sich bereits in jungen Jahren durchaus eine gewisse Skepsis gegenüber der patriarchalen Grundhaltung der ersten Generation von Minjung-Theologen. Daher verortet sie ihre Theologie lieber in theologischen Diskursen asiatischer Frauen, wie sie im Umfeld des Frauenbüros der Christlichen Konferenz Asiens (CCA), in der EATWOT-Frauenkommission und der Zeitschrift „In God’s Image“ geführt werden. Ihr Diktum: ‚Wir sind der Text und die Bibel ist der Kontext‘15 geht noch über Suh Nam-Dong und seinen Primat des Kontextes hinaus. Chung proklamiert einen „überlebens- und befreiungszentrierten Synkretismus“16, der die Elemente asiatischer Religionen, die dem guten Leben der Frauen dienen, und den christlichen Glauben miteinander verbindet.
Eine ganz eigene neue Stimme im Chor ist Joomee Hur (*1976), die ähnlich wie Chung die Männerdominanz der Minjung-Theologie kritisch hinterfragt.17 Sie nimmt auf, was ihr hilfreich erscheint, und entwickelt es weiter. Hur wendet sich dem theologisch bisher wenig bearbeiteten Thema der Migrantinnen, die vor allem im ländlichen Bereich als Ehefrauen von Bauern ins Land kommen, die keine koreanischen Frauen mehr finden, die sich dem mühseligen und wenig lukrativen Landleben aussetzen wollen. Geschickt parallelisiert sie dabei die durchaus vergleichbaren Erfahrungen koreanischer Frauen vor noch ein, zwei Generationen, etwa als Postkarten-Bräute auf Hawaii oder Militär-Bräute für amerikanische Soldaten, und der Migrantinnen in Korea heute, und kreiert einen Dritten Raum der Empathie. Sie erzählt ihre Geschichten, indem sie kunstvoll Fiktion in Romanen und Filmen, Medienberichte und soziologisches Datenmaterial miteinander verwebt. Der christologische Schwerpunkt verschiebt sich dabei von der Leidenszentriertheit hin zur Reich-Gottes-Arbeit unter dem eschatologischen Spannungsbogen des Schon-Jetzt und Noch-Nicht.
Minjung-Theologie in interkultureller Perspektive
Schon die 1979er-Konferenz mit dem unverfänglichen Titel „Das Volk Gottes und die Mission der Kirche“, deren Dokumentation „Minjung Theology. People as the Subjects of History“18 gewissermaßen zum Manifest der Minjung-Theologie geworden ist, war vom Nationalen Kirchenrat Koreas und der Christlichen Konferenz Asiens gemeinsam organisiert worden und sollte die Minjung-Theologie als eine asiatische kontextuelle Theologie bekanntmachen. Ein spezifisch koreanisch-deutscher interkultureller Dialog ist der Briefwechsel mit dem Evangelischen Missionswerk in Hamburg (EMW).19 Der von der theologischen Kommission des EMW initiierte Briefwechsel projiziert das eigene theologische Trauma der völkischen Theologie der Nationalsozialisten auf die Minjung-Theologie und schulmeistert ihre Vertreter aus der Perspektive der deutschen akademischen Theologie. Auch der differenzierte koreanische Antwortversuch blieb letztendlich unverstanden. Gelungene Beispiele für interkulturelle theologische Kommunikation im Gespräch mit anderen kontextuellen Theologien finden sich demgegenüber in einem verdienstvollen Sammelband des koreanisch-amerikanischen Theologen Young-Jung Lee, der als nordkoreanischer Flüchtling in die USA kam.20
Jung-Young Lee hat aber mit Marginality auch seine eigene Erfahrung als asiatischer bzw. koreanischer Amerikaner reflektiert21 und damit schon ein Thema aufgegriffen, das in Korea erst in jüngerer Zeit Aufmerksamkeit erlangt hat, nämlich die weltweite koreanische Diaspora. Was könnte die Minjung-Theologie etwa für die vielen weltweit verstreuten koreanischen Adoptivkinder oder die koreanischen Krankenschwestern und Bergarbeiter in Deutschland, deren Migrationsgeschichten Teil der Geschichte von Armut und Unterdrückung des koreanischen Minjung unter der Entwicklungsdiktatur der koreanischen Militärs sind, bedeuten?
Lee beschreibt seine Existenz zunächst nach dem bekannten, oft als negativ empfundenen Modell des Zwischen-Zwei-Kulturen-Seins (in-between). Er wertet dieses dann jedoch um, indem er auf die Bereicherung verweist, die sich durch eine Zugehörigkeit zu beiden Welten ergibt (in-both). Letztendlich ergibt sich für ihn daraus aber eine Existenz, die in beiden verwurzelt ist und zugleich darüber hinauswächst (in-beyond). „Die Essenz des ‚innerhalb und zugleich jenseits von beiden zu sein‘ ist kein Nebenprodukt des zwischen oder in beiden zu sein, vielmehr verkörpert es einen Zustand des In-beiden-Seins, ohne sie zu vermischen.“22
Theologie muss an die Ränder gehen und von den Rändern her denken, dort bilden sich neue Exzentrizitäten der Kreativität. „Marginalität lässt sich am besten als ein Nexus verstehen, indem zwei oder drei Welten miteinander verbunden sind.“23 Zugleich stellt sich die Frage, welche Zukunft die Minjung-Theologie im globalen theologischen Flow der Befreiungstheologien hat.24 Kwok Pui-Lan und Jörg Rieger haben mit Occupy Religion ein Manifest geschrieben, das die Religionen, insbesondere ihr eigenes amerikanisches Christentum, dazu auffordert, sich auf ihre befreienden Traditionen zu besinnen und aus der neoliberalen Gefangenschaft zu befreien.25 Gott ist auf der Seite der Armen und Unterdrückten, war das Credo der Befreiungstheologien der ersten Generation. Für Kwok und Rieger haben diese nichts von ihrer Relevanz verloren. Nur das es heute um einen Konflikt zwischen den 99 % und dem einen Prozent geht, das den ganzen Reichtum und die Macht akkumuliert hat. „Es gibt keinen sicheren Platz in der Mitte“26. Für ihre „Theologie der Multitude“ nehmen sie ein Konzept von Michael Hardt und Antonio Negri aus deren Empire-Triologie auf27 und verweisen ausdrücklich auf die Nähe zum neutestamentlichen ochlos-Begriff und der Minjung-Theologie.28 Allerdings ist die Konzentration auf eine bestimmte Gemeinschaft, wie sie typisch für die erste Generation von Befreiungstheologien war, obsolet angesichts der Tatsache, dass es inzwischen um 99 % der Weltbevölkerung geht. Kwok und Rieger warnen denn auch ausdrücklich davor, dass die klassische Identitätspolitik von dem herrschenden einen Prozent der Bevölkerung instrumentalisiert wird, um die Opposition zu spalten.29 Sie votieren demgegenüber für eine „tiefe Solidarität“30, die Diversität respektiert: „Gott ist in Beziehung“31. Ähnlich radikal wie schon der Minjung-Theologe Hyun Young-Hak oder der Nestor der Schwarzen Theologie, James Cone32, können sie formulieren: „Wenn unsere Antwort darauf, wo Gott am Werk ist ‚Nirgendwo im besonderen‘ ist, dann lasst uns gleich hier und jetzt aufhören, uns mit der Gottesfrage auseinanderzusetzen.“33 Ansonsten aber sind „alle, die in die subversive und transformierende Kraft des inkarnierten Gottes glauben, eingeladen, sich am Gespräch über ‚occupy religion‘ zu beteiligen“34. Ähnlich wie die kontextuellen Theologien die postkoloniale Theologie antizipiert haben, ist die Interkulturelle Theologie eine intersektionale Theologie avant la lettre, die Perspektiven von Kultur, Religion, Race/Ethnizität, Klasse, Gender, Inklusion etc. integriert. La lucha continua!
01 Vgl. V. Küster, Theologie im Kontext. Zugleich ein Versuch über die Minjung-Theologie, Nettetal 1995; ders., A Protestant Theology of Passion. Korean Minjung Theology Revisited, Leiden 2010. 02 Zit. nach: Hyun Young-Hak, Minjung: The Suffering Servant and Hope, in: Interreligio 7 (1985), 2-14, hier 4. 03 Vgl. Ahn Byung-Mu, Jesus und das Minjung im Markusevangelium, in: J. Moltmann (Hrsg.), Minjung. Theologie des Volkes Gottes in Südkorea, Neukirchen-Vluyn 1984, 110–132; ders., Das Subjekt der Geschichte im Markusevangelium, in: ebd., 134–169; V. Küster, Jesus und das Volk im Markusevangelium. Ein Beitrag zum interkulturellen Gespräch in der Exegese, Neukirchen-Vluyn 1996. 04 Ahn Byung-Mu, Was ist die Minjung-Theologie?, in: Junge Kirche 43 (1982), 290–296, hier 295. 05 Ders., Die Träger der Überlieferung des Jesusereignisses, in: ders., Draußen vor dem Tor. Kirche und Minjung in Korea. Theologische Beiträge und Reflexionen, Göttingen 1986, 99–119, hier 101. 06 Suh Nam-Dog, Historical References for a Theology of Minjung, in: Minjung Theology. People as the Subjects of History, Maryknoll, NY sec. rev. ed. 1983 [1981], 155–182, hier 177. 07 Ders., Han. Darstellungen und theologische Reflexionen, in: J. Moltmann, Minjung, a.a.O., 27–46, hier 32. 08 Kim Young-Bok, Theology and the Social-Biography of the Minjung, in: CTC Bulletin Vol. 5 No. 3 –Vol. 6 No. 1 (Dec. 1984 – April 1985), 66–78, hier 70f. 09 Vgl. ders., Messias und Minjung. Zur Unterscheidung von messianischerPolitik und politischem Messianismus, in: J. Moltmann, Minjung, a.a.O., 215–229. 10 Ursprünglich zur Aus- und Weiterbildung für die Industrie- und Landmission (UIM/URM) gegründet, wurde 1977 auch ein theologischer Ausbildungsgang für die von den Universitäten verwiesenen Studierenden eingerichtet. Vgl. V. Küster, Theologie im Kontext, a.a.O., 120f. 11 Kang Won-Don, Zur Gestaltung einer human, sozial und ökologisch gerechten Arbeit, Ammersbeck bei Hamburg 1998. 12 Ders., Some Tasks of Minjung Theology in the Age of Globalization, in: Kwon JIn-Kwan/V. Küster (Hrsg.), Minjung Theology Today. Contextual and Intercultural Perspectives, Leipzig 2018, 65–81. 13 Vgl. Kwon Jin-Kwan, Theology of Subjects. Towards a New Minjung Theology, Tainan 2011. 14 Chung Hyun-Kyung, Struggle to be the Sun again. Introducing Asian Women’s Theology, Maryknoll, NY 1990, 109. 15 Ebd., 111. 16 Ebd., 113. 17 Vgl. bisher Joomee Hur, Embarking on a Theological Journey with Literature – A Confluence of Two Stories of Migrant Brides, in: Kwon Jin-Kwan/V. Küster (Hrsg.), Minjung Theology Today, a.a.O., 127–144; dies., Theological Reflections on Migrant Married Women in South Korea, in: Towards Theology of Justice for Life in Peace (Minjung-Dalit Theological Dialogue), Bangalore 2012, 275–283. 18 Ursprünglich 1981 in Singapore von der CCA verlegt; 1983 dann in 2. Aufl. m. Einführungen v. J. Cone u. D. Suh in New York erschienen. 19 Minjung-Theologie – Ein Briefwechsel, Hamburg 1989; vgl. V. Küster, Theologie im Kontext, a.a.O., 14–16. 20 An Emerging Theology in World Perspective. Commentary on Korean Minjung Theology, hrsg. v. Jung Young Lee, Mystic, Connecticut 1988; vgl. V. Küster, A Protestant Theology of Passion, a.a.O., 119–122. 21 Jung Young Lee, Marginality. The Key to Multicultural Theology, Minneapolis 1995; vgl. V. Küster, Einführung in die interkulturelle Theologie, Göttingen 2010, 127–129. 22 Jung Young Lee, Marginality, a.a.O., 62. 23 Ebd., 47. 24 Vgl. R. Schreiter, Die neue Katholizität. Globalisierung und die Theologie, Frankfurt/M. 1997. 25 J. Rieger/Kwok Pui-Lan, Occupy Religion. Theology of the Multitude, Lanham u. a. 2013. 26 Ebd., 16. 27 Vgl. M. Hardt /A. Negri, Empire, Cambridge, MA 2000; dies., Multitude. War and Democracy in the Age of Empire, Cambridge, MA 2004; dies., Commonwealth, Cambridge, MA 2009; weiterhin s. dies., Declaration, New York 2012. 28 Vgl. J. Rieger/Kwok Pui-Lan, Occupy Religion, a.a.O., 6f. 29 Vgl. ebd., 69. 30 Ebd., 30. 31 Vgl. ebd., 97–101. 32 Vgl. Hyun Young-Hak, Der koreanische Maskentanz, a.a.O., 59; J. Cone, God of the Oppressed, Maryknoll, NY new rev. ed. 1997, 75. 33 J. Rieger/Kwok Pui-Lan, Occupy Religion, a.a.O., 87. 34 Ebd., 9.
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