archivierte Ausgabe 1/2013 |
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Michael Schüßler |
Die Tradition aufs Spiel setzen |
In den Archiven des Glaubens mit Xavier Naidoo und Bruno Latour |
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Für eine erste Orientierung zugespitzt, zeigt sich die Lage dramatisch. Die drei klassischen Tradierungsorte des Glaubens – Familie, Schule und Gemeinde – können ihre herkömmliche Aufgabe als Einweisungsagenturen in einen kirchlichen Lebensstil immer weniger erfüllen. Die Familie hat ihre religiösen Zweigstellen wegen Kirchendistanz und Alltagsüberlastung schon länger geschlossen. In der Schule werden mangels Interesse und religiösen Vorkenntnissen der Schüler lediglich Allgemeinplätze vermittelt. Und in der Pfarrgemeinde engagieren sich sowieso nur noch die Milieus über 50. Dann noch die Fälle sexueller Gewalt in kirchlichen Einrichtungen und keine Bewegung bei den innerkirchlichen Streitthemen: Die Exkulturation des (katholischen) Glaubens scheint beschlossene Sache.
Tradierungsabbruch? Exemplarische Orientierungen
Gleichzeitig aber gibt es Geschichten wie die Erzählung dieses jungen Mannes. „Silvester, als ich von zehn bis zwölf keine Fahrt gehabt habe (als ‚Zivi‘ im Behindertenfahrdienst, M. S.), hab ich mich halt hingesetzt, Bob Marley gehört und in der Bibel gelesen. Ich hatte so ’ne Kerze mit der Jahreszahl drauf, hab die Bibel auf der Seite aufgeschlagen – das waren die letzten Worte des zweiten Petrusbriefs – und dann weitergelesen bis weit in die Offenbarung hinein. … Ich will nicht sagen, dass mir Gott begegnet ist, ich kann nur sagen, ich hab … gemerkt, daß der Typ mit mir spricht. Fertig. … Und dann hab ich … so viel Zeug entdeckt, von dem ich sagen muss: Das haben die alle mir immer verschwiegen!“ Das erzählt Xavier Naidoo, einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Popmusiker der letzten Jahre. Seine Musik kann man ästhetisch wie theologisch mit guten Gründen kritisieren. Wie und was Naidoo allerdings über seine Begegnung mit den christlichen Archivbeständen berichtet, dokumentiert das Neue in den Tradierungsbedingungen:
1. Der christliche Quellcode ist heute unhintergehbar freigegeben. Der Zugriff auf die Traditionen des Glaubens wurde auf „open source“ umgestellt. Wie Xavier Naidoo kann sich heute wirklich jeder Mensch auf Kernelemente des Christlichen beziehen, ohne dass eine Kontrollinstanz dazwischen geschaltet wäre. Alle User der Tradition können an ihr mitschreiben. Die Kirchen haben damit als ehemalige Monopolisten ihre hegemonialen Rechte verloren. Der christliche Quellcode wird weiter nachgefragt, aber der institutionelle Urheberschutz scheint ausgelaufen.
2. Für die Kirche als mächtige Religionsgemeinschaft ist das eine tiefe Kränkung. Für die Kirche als Zeichen und Werkzeug des Evangeliums dagegen eine erfreuliche Nachricht. Denn es ergeben sich neue Spielräume für normativ unfestgestellte und damit potenziell kreative Inkulturationsereignisse der christlichen Botschaft – siehe Naidoo oder viele der auch christlich inspirierten Aktivist/-innen und Sympathisant/-innen bei Attac oder Occupy.
Die Rede vom Traditionsabbruch scheint damit heute für die amtlichen Vollzüge der Kirche zutreffend, für die Gesamtgesellschaft allerdings äußerst verkürzt. Ungeplant und unkontrolliert ereignet sich hier und dort eine De-facto-Tradierung des Glaubens, die aber nur selten den Regeln des kirchlichen Sozialraums folgt. Die Inkulturation des Evangeliums driftet damit aus ihren modernen Festkörpern hinaus aufs offene Meer: der Entdeckungshorizont des Evangeliums hat sich erneut verflüssigt. Nicht die zeitliche Kontinuität und Erwartbarkeit der Geschichte, sondern das Ereignis, der jeweils nächste Schritt in einem unsicheren Gelände, wird zum neuen Inkulturationsort des Evangeliums.
Nahezu jeder pastorale Ort hierzulande steht damit heute vor dem Problem, sich in flüchtigen und situativen Zeitstrukturen zu konstituieren. Man kann dann beobachten, wie unterhalb der kirchlichen Tradierungsprogrammatik in Familie, Gemeinde und Religionsunterricht oft etwas ganz anderes passiert, das theologisch aber nicht weniger wert ist. [...]
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