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Leseprobe 3 DOI: 10.14623/wua.2019.2.77-84
Gudrun Hentges / Hans-Wolfgang Platzer
Europäische Identität und Identitätspolitik von rechts
Mit dem Voranschreiten der europäischen Integration in den vergangenen Dekaden und den damit verbundenen ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Europäisierungsprozessen wurde die Frage nach einer europäischen Identität zu einem Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung, weil kollektive Identitätsbildungen durch die hinzutretende Bezugsgröße ‚Europa‘ weiter pluralisiert werden und „auch der transnationale öffentliche Raum […] mittlerweile gleichsam als eine Art Großlaboratorium für kollektive Bewusstseinsbildung [fungiert], deren Richtung und Ausprägungen derzeit noch nicht absehbar sind.“1 Viele Fragen nach den Voraussetzungen, Entstehungsbedingungen, Notwendigkeiten, Ausprägungen und Wirkungsrichtungen einer europäischen Identität bzw. einer Identität der Europäischen Union sind wissenschaftlich noch nicht hinreichend geklärt. Dennoch lassen sich auf der Basis vorliegender quantitativ-empirischer wie auch diskursanalytischer Untersuchungen einige für unseren Debattenbeitrag relevante Eckpunkte skizzieren.2

Europäische Identitätsbildung

In der sozialen Konstruktion einer europäischen Identität spielen nationale Kontexte und national gefilterte Erfahrungen eine zentrale Rolle. Ein generelles, EU-weites Muster der Beziehungen zwischen nationalen und EU-bezogenen Identifikationen und Einstellungen gibt es nicht. Nationale Identifikationsgrade mit der EU variieren entlang der Zeitachse, wie auch nach Ländern. Während die Mehrheit der EU-Bürger*innen an der diskursiven Konstruktion europäischer Identitätsmuster nur schwach beteiligt ist, spielen nationale Eliten eine entscheidende Rolle. Die Langzeiterhebungen des Eurobarometers der EU-Kommission fördern bei der Frage „ich fühle mich meiner Region, meinem Land, der EU in folgender Weise verbunden“ eine multiple oder Mehr-Ebenen-Identität zutage. Demzufolge fühlt sich ein vergleichsweise hoher und zugleich relativ stabil bleibender Anteil der Bevölkerung nicht nur als Angehöriger seiner Region oder seines Landes, sondern zugleich auch als Europäer*in bzw. EU-Bürger*in.

Quer zu den nationalen Einflüssen steht die soziale Stratifikation: „Gebildete und Wohlhabende identifizieren sich EU-weit und unabhängig von der nationalen Zugehörigkeit stärker mit der EU als weniger Gebildete und ärmere Personen.“3 Dieses sozi-demografische Grundmuster kollektiver europäischer Identitätsbildung findet beispielsweise in den Ergebnissen des britischen EU-Referendums einen signifikanten Niederschlag. Fragt man nach den Ausprägungen und Zusammenhängen von „civic“ und „cultural European identity“4, so spielen – über längere Zeiträume hinweg betrachtet – bei den für die EU relevanten Identitätskonstruktionen vor allem politisch-rationale Bezüge eine gewichtige Rolle, die neben demokratischen Werten eng an ein utilitaristisches Integrationsverständnis (die EU als erfolgreicher und ‚nützlicher‘ Problemlösungsverbund) gekoppelt sind. Emotionale oder kulturelle Fundierungen – etwa durch gemeinsam geteilte historische Narrative – sind hingegen schwächer ausgeprägt.

Macrons Pro-Europa-Kurs

Wendet man sich aktuellen Auseinandersetzungen um eine europäische Identität zu, so verdient die vom französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron in einer Serie von „Europa-Reden“5 vorangetriebene Sicht auf die Identität der EU aus einer Reihe von Gründen besondere Beachtung. Im Zuge des Krisengeschehens der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart (Finanzmarktkrise, Migrationsproblematik, Brexit etc.) gewinnt die Frage, wie sich im EU-Integrationsverbund kollektive Identitäten entwickeln, an Brisanz, weil im politischen Ringen um die Reform und Weiterentwicklung der EU rechtspopulistische und rechtsextreme Kräfte und europafeindliche Strömungen an Gewicht gewinnen.6

Vor dem Hintergrund dieser integrationspolitischen Auseinandersetzungen, die auch identitätspolitische Auseinandersetzungen sind, markiert Macron gleichsam den einen Pol einer europäischen Identitätskonstruktion: Die Europäische Union baut für Macron auf gemeinsamen kulturellen und zivilisatorischen Grundlagen auf, die in einem Tonfall beschrieben werden („das Europa der Zirkel, der Zeitschriften, der Reisenden, der Bibliotheken und der Ideen“), der an essenzialistische Vorstellungen kollektiver Identität erinnert. Des Weiteren bilden die in der EU zusammengeschlossenen Staaten und Völker für Macron eine „historische Schicksalsgemeinschaft“ und zugleich eine politische Einheit, die auf gemeinsamen Werten basiert, wobei er die Werte „Freiheit, Demokratie und sozialer Ausgleich“ besonders hervorhebt. Das bedeutet, dass die europäische Identität „nicht ausschließlich über ein gemeinsames ‚Anderes‘ oder ein gemeinsames Feindbild konstruiert wird, sondern […] über den Versuch der Definition dessen, was die EuropäerInnen eigentlich im Kern gemeinsam haben, sowohl politisch als auch kulturell.“7

Indem Macron die staatliche Souveränität nicht nur auf der nationalen, sondern auch auf der europäischen Ebene verortet und der EU-Ebene eine eigene Legitimität zuschreibt, vollzieht er zugleich gegenüber seinen Vorgängern und bisherigen Traditionslinien des französischen Europadiskurses einen Paradigmenwechsel. Diese europäische Identitätskonstruktion ist nicht zuletzt anschlussfähig an proeuropäische Diskurstraditionen und Identitätsvorstellungen in Deutschland. Gleichzeitig wendet sie sich entschieden gegen eine national-populistische und zugleich ethnisch-kulturell, ja teils rassistisch akzentuierte Identitätspolitik, die europaweit um sich greift und die in Polen und Ungarn mittlerweile das Regierungshandeln prägt. Die an diesem Gegenpol der aktuellen identitätspolitischen Auseinandersetzungen vertretenen Konzeptionen kollektiver Identität durch rechtspopulistische Kräfte und die neue Rechte in Europa stellen sich wie folgt dar.

Neue Rechte und ‚Identitäre Bewegung‘


Ungeachtet des Vertrags über die Europäische Union (Art. 2) aus dem Jahre 1992 entwickelten sich innerhalb der EU-Mitgliedstaaten politische Strömungen und Organisationen, die der „Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtstaatlichkeit […], Wahrung der Menschenrechte“ und Wahrung der Rechte von Minderheiten ebenso eine Absage erteilen wie dem Pluralismus, der Nichtdiskriminierung, der Toleranz, der Gerechtigkeit, der Solidarität oder etwa der Gleichheit von Frauen und Männern. Seit einigen Jahren kandidieren Rechtsaußenparteien erfolgreich bei den nationalen Wahlen und sind derzeit in fast allen nationalen Parlamenten vertreten, so in Polen (37,6 %), Österreich (26,0 %) Slowenien (24,9 %), Dänemark (21,1 %), Belgien (20,3 %), Ungarn (Jobbik: 19,1 % und Fidesz: 48,5 %), Finnland (17,7 %), Schweden (17,5 %), Italien (17,4 %), Lettland (16,6 %), Frankreich (13,2 %), Niederlande (13,1 %), Deutschland (12,6 %), Tschechien (10,6 %), Bulgarien (9,1 %), Griechenland (7 %) und der Slowakei (8 %).

Diese Formierungen, die sich im politischen Spektrum am rechten Rand verorten lassen, sind keineswegs homogen. Im Gegenteil: Sie zeichnen sich durch eine große Heterogenität aus – hinsichtlich der ideologischen Bezüge, der historischen Referenzen und der historischen Vordenker. Unter dem Dach der extremen Rechten finden sich wiederum verschiedene Spielarten: einerseits jene Strömungen, die dem Gedanken der europäischen Identität eine Absage erteilen und für Renationalisierung eintreten (zusammengeschlossen in den Fraktionen ‚Europa der Nationen und der Freiheit‘, ‚Europa der Freiheit und der direkten Demokratie‘, ‚Europäische Konservative und Reformer‘), andererseits jene Strömungen, die sich vehement auf das gemeinsame europäische Erbe beziehen, daraus eine europäische Orientierung ableiten, zugleich jedoch Regionalismus und Nationalismus stark machen wollen, prominent vertreten durch die ‚Identitäre Bewegung‘ (hiernach: IB), die erst seit 2012/13 auch in Deutschland existiert und wahrgenommen wird.8 ‚Europäische Identität‘ im Sinne der IB steht nicht in Zusammenhang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, mit der Forderung nach Solidarität in Europa, mit der Vorstellung eines sozialen Europas oder mit der Freizügigkeit innerhalb Europas. Vielmehr beziehen sich jene Aktivist*innen, die sich im Umfeld der IB für ein Europa stark machen, auf das (vermeintlich) abendländische Erbe und historische Narrative.

Die beiden zentralen Narrative der IB sind erstens der Bezug auf den Kampf der Spartaner gegen die Perser (Schlacht bei den Thermopylen) und zweitens die Referenz auf den Beitrag Karl Martells, dem zugeschrieben wird, dass er im Jahre 732 bei der Schlacht um Tours und Poitiers die Mauren zurückgedrängt und damit das Abendland vor den Invasoren gerettet habe. In beiden Narrativen geht es also darum, dass die IB, ausgehend von historischen Ereignissen, eine Mythenbildung betreibt, um ein Europa und einen Europäer zu konstruieren, der sich im Kampf gegen die Perser oder Nordafrikaner – und damit gegen den Islam – behaupten musste, um seine Freiheit zu verteidigen. Somit entsteht ein WIR, das tapfer und freiheitsliebend und dazu bereit ist, das eigene Leben um der Freiheit willen zu opfern. Symbole wie das Lambda (der 11. Buchstabe des griechischen Alphabets), das angeblich auf den Schildern der Spartaner zu sehen war, oder die Jahreszahl 732 (Schlacht von Tours und Poitiers), die als wiederkehrender Zahlencode auf Transparenten oder auf der Kleidung der Aktivist*innen der IB zu finden ist, sind Teil einer Bildsprache, die durchzogen ist von popkulturellen Elementen.

Kampfansage an die heterogene Gesellschaft

Diesem solchermaßen konstruierten christlichen WIR der Europäer werden die ANDEREN Muslime entgegengestellt – seien es die kämpfenden Perser, die einfallenden Mauren oder die Flüchtlinge, denen unterstellt wird, dass sie Europa erobern wollen. Diese drei Narrative des Kampfes ‚Orient gegen Okzident‘ erzählen alle die unendliche Geschichte der ständigen Bedrohung Europas durch die muslimischen ‚Barbaren‘, eine Bedrohung, der mit einer ‚Reconquista‘ begegnet werden müsse. Im Sinne der Konstruktion eines WIR heißt es auf der Webseite der IB unter „Zukunft Europa“: „Die Begriffe ‚Zukunft‘ und ‚Europa‘ sind Triebfedern unseres täglichen Handelns. Wir sind die Generation, die sich nicht nur mit ihrem Schicksal arrangiert, sondern es gestaltet. Wir setzen Taten und eine patriotische Hoffnung für die Jugend, die noch ein Bewusstsein für ihre eigene Identität, Kultur und Tradition hat. Wir stellen uns in die erste Reihe und bilden die Phalanx, um die jahrtausendealte Völkerfamilie Europas zu erhalten und geschichtlich fortzusetzen.“9

Auch wenn diese Erklärung auf den ersten Blick harmlos erscheinen mag – es geht ja zunächst „nur“ um Identität, Kultur und Tradition –, so bedarf es eines zweiten Blicks, um die Weltbilder und Kampfansagen zu erkennen, die von der IB propagiert werden. Der IB geht es nicht nur um eine vermeintliche Verteidigung Europas – bezeichnenderweise firmierte eine IB-Kampagne im Sommer 2017, die gegen die zivile Seenotrettung von Flüchtlingen gerichtet war, unter dem Motto ‚Defend Europe‘ –, vielmehr geht es ihr um nichts Geringeres als um eine ‚Reconquista‘ des europäischen Kontinents.10 Im Sinne einer Täter-Opfer-Umkehr inszenieren sich die identitären Aktivist*innen als Opfer einer Politik der Entkolonialisierung, die dazu führte, dass die ehemals kolonial unterworfenen Völker nun in die alten Kolonialländer migrieren, um hier Rache zu üben. Die Rache der kolonial Unterworfenen besteht laut Renaud Camus darin, dass sie mittels ihrer Reproduktionsquote Europa bevölkern und nach und nach unterwandern werden. Solche Verschwörungsfantasien finden sich in dem Buch Revolte gegen den Großen Austausch (Renaud Camus), das als ‚Bibel‘ der Identitären gehandelt wird.

Kein Zweifel besteht darin, dass die identitären Aktivist*innen diesen Kampf um Europa gewaltsam austragen wollen. So veröffentlichten sie eine „Kriegserklärung“, in der es heißt: „Wir sind Génération Identitaire. Wir sind die Generation, die man tötet, weil sie die falsche Person ansieht, weil man eine Zigarette verweigert oder dafür eine Gesinnung zu haben, die jemandem nicht gefällt. Wir sind die Generation der ethnischen Spaltung, des totalen Scheiterns des Zusammenlebens und der erzwungenen Mischung der Rassen. Wir sind die doppelt bestrafte Generation: Dazu verdammt in ein Sozialsystem einzuzahlen, das so großzügig zu Fremden ist, dass es für die eigenen Leute nicht mehr reicht. Unsere Generation ist das Opfer der 68er, die sich selbst befreien wollten von Tradition, von Wissen und autoritärer Erziehung. Aber sie haben es nur geschafft sich von ihrer Verantwortung zu befreien. Wir lehnen unsere Geschichtsbücher ab, um unsere Erinnerung wiederzugewinnen. Wir glauben nicht mehr, dass ‚Khader‘ unser Bruder sein kann, wir haben aufgehört, an ein ‚globales Dorf‘ und die ‚Familie aller Menschen‘ zu glauben. Wir haben entdeckt, dass wir Wurzeln und Vorfahren und darum auch eine Zukunft haben. Unser Erbe ist unser Land, unser Blut, unsere Identität. Wir sind die Erben unserer eigenen Zukunft. Wir haben den Fernseher ausgeschaltet, um auf die Straße zu gehen. Wir haben unsere Botschaft auf die Wände geschrieben. Haben sie in unsere Lautsprecher gerufen: ‚Jugend an die Macht‘ und haben unsere Lambda-Flaggen gehisst. Das Lambda, gemalt auf die stolzen Schilder der Spartaner, ist unser Symbol. Versteht ihr das nicht? Wir werden nicht zurückweichen, wir werden nicht nachgeben! Wir haben die Schnauze voll von eurer Feigheit. Ihr seid aus den Jahren des Nachkriegswohlstands, üppiger Pensionen, von SOS Rassismus und ‚Multi-kulti‘, sexueller Befreiung und einem Sack Reis von Bernard Kouchner. Wir erleben 25 % Arbeitslosigkeit, Sozialschuld, Kollaps von Multikulti und eine Explosion des gegen Weiße gerichteten Rassismus. Wir sind zerbrochene Familien und junge französische Soldaten, die in Afghanistan sterben. Ihr kriegt uns nicht mit einem Kondolenzbuch, einem vom Staat bezahlten Drecksjob und einem Schulterklopfen. Wir brauchen eure Jugendpolitik nicht. Jugend ist unsere Politik. Glaubt nicht, dies ist nur ein Manifest. Es ist eine Kriegserklärung. Ihr seid von gestern, wir sind von morgen. Wir sind Génération Identitaire.“11

Sie wenden sich also gegen heterogene Gesellschaften, gegen bikulturelle Partnerschaften (in ihren Augen „Rassenmischung“), prangern an, dass das Sozialsystem zu großzügig gegenüber Fremden sei, so dass die autochthone Bevölkerung nicht mehr versorgt werden könne, sie wenden sich gegen die Errungenschaften der 68er Bewegung, gegen eine Vergangenheits- und Erinnerungspolitik, gegen universalistische Vorstellungen, plädieren für einen Rückbezug auf die Prinzipien der Abstammung und des Blutes und demnach für das ‚ius sanguinis‘ und verteufeln die Medien als ‚Lügenpresse‘. Angeprangert wird die extrem hohe Arbeitslosigkeit und im Sinne einer Täter-Opfer-Umkehr wird ein Rassismus gegen Weiße behauptet. In diesem Sinne ruft die ‚Kriegserklärung‘ die ‚Jugend Europas‘ dazu auf, auf die Straßen zu gehen und sich Europa zurückzuerobern. Da deutlich gemacht wird, dies sei kein Manifest, sondern eine Kriegserklärung, kann an der Gewaltbereitschaft kein Zweifel bestehen.

Identitäre Netzwerke in Deutschland


Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass es sich bei der IB lediglich um ein virtuelles Phänomen handelt, das in erster Linie durch das virale Video ‚Kriegserklärung‘ bekannt wurde.12 Jedoch hat sich vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen (Wirtschafts- und Finanzkrise, sozioökonomische Folgen, Repräsentationskrise, Suche nach kultureller Anerkennung) eine Metamorphose der Identitären vollzogen: Aus einem zunächst virtuellen Phänomen wurde eine Protestbewegung, die nicht nur in Frankreich, Österreich, Italien und Tschechien, sondern auch in Deutschland präsent ist.

Während die IB in Frankreich darum bemüht ist, sich von Marine Le Pen abzugrenzen, entwickelt sich in Deutschland derzeit ein identitäres Netzwerk, in das neben dem Institut für Staatspolitik (Götz Kubitschek) die Zeitschriften ‚Sezession‘ und ‚Blaue Narzisse‘, die rechte Bürgerbewegung Pegida und auch die AfD eingebunden ist.13 Auch wenn Letztere im Juni 2016 einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit den Identitären beschlossen hat, hindert dies die jeweiligen politischen Akteure nicht an einer Kooperation.14 So unterhält z. B. der AfD-Landtagsabgeordnete in Sachsen-Anhalt, Hans-Thomas Tillschneider, seit September 2017 ein zweites Bundestagsbüro außerhalb seines Wahlkreises in dem identitären Hausprojekt ‚Kontrakultur Halle‘ in der Adam-Kuckhoff-Straße 16. Dort firmiert er als Untermieter des Projekts ‚Ein Prozent für unser Land‘, welches von dem rechtsextremen Verleger Philipp Stein geleitet wird, der zugleich Sprecher der Burschenschaft Germania Marburg ist. Über Crowdfunding-Kampagnen werden aus diesem Projekt auch die Identitären subventioniert.

Es dürfte deutlich geworden sein, dass sich mit der IB, die dem Islam und den Muslimen den Kampf angesagt hat, eine Kraft außerhalb der Parlamente etablieren konnte, die nicht per se als antieuropäisch zu kategorisieren ist. Das von ihr vertretene Europa-Konzept ist vielmehr ein ethnopluralistisches Europa, das in der Tradition der nationalrevolutionären Kräfte steht.

Umkämpfte europäische Identität


In einem Europa multipler Krisen wird europäische Identität nicht zuletzt durch die Art und Weise beeinflusst, wie in den öffentlichen Räumen – je national und transnational – die historischen Errungenschaften und politischen Defizite der EU und die Ursachen und Folgen von Krisen kommuniziert werden. Da sich mit den Krisendiskursen die (Selbst)Beschreibungen des EU-Systems und – damit zusammenhängend – die Identifikationsmuster mit der EU und der Legitimitätsglaube verändern, ist nur schwer absehbar, wie sich die weitere Entwicklung der identitätspolitischen Auseinandersetzungen zwischen den skizzierten Polen gestalten wird.

Gegenwärtig ergibt sich ein widersprüchliches Bild: Auf der einen Seite zeigen aktuelle Umfragen, dass die Zustimmungswerte zur EU trotz des jüngsten Krisengeschehens insgesamt betrachtet stabil geblieben sind. Selbst in Ungarn und Polen überwiegen in der Bevölkerung noch immer positive Zustimmungswerte zu einer EU-Mitgliedschaft – und dies trotz einer gegen Ziele und Werte der EU gerichteten Politik der Staatsführungen und nationalistischen politischen Eliten. Auf der anderen Seite ist die Wir-Identität der Europäer*innen bei weitem (noch) nicht in einer Stärke vorhanden, um grenzübergreifend – dies zeigen exemplarisch die Auseinandersetzungen um eine gemeinsame EU-Asyl- und Migrationspolitik – demokratische Mehrheitsentscheidungen oder solidarische Umverteilungen in größerem Ausmaß zu akzeptieren. Die begrenzte Belastbarkeit einer kollektiven europäischen Identität auf den am Beispiel Macrons beschriebenen Fundamenten macht einen möglichen Vormarsch der ‚Internationale der Nationalisten‘ und eine in zahlreichen Ländern der EU Raum greifende ethnisch-biologistische Identitätspolitik der Rechten, die als demokratie- und menschenrechtskonformer Ethnopluralismus getarnt letztlich auf Apartheid zielt, umso bedrohlicher.



01 M. Bach, Europa ohne Gesellschaft. Politische Soziologie der Europäischen Integration, Wiesbaden 2/2015, 12.
02 Vgl. C. Wiesner, Was ist europäische Identität? Theoretische Zugänge, empirische Befunde,
Forschungsperspektiven und Arbeitsdefinition, in: G. Hentges/K. Nottbohm/H.-W. Platzer (Hrsg.), Europäische Identität in der Krise? Europäische Identitätsforschung und Rechtspopulismusforschung im Dialog, Wiesbaden 2017, 21–56.
03 Ebd., 47.
04 M. Bruter, Winning Hearts and Minds for Europe: The Impact of News and Symbols on Civic and Cultural European Identity, in: Comparative Political Studies 36,10 (2003), 1148–1179.
05 A. Thomas, Ein Paradigmenwechsel im französischen Europadiskurs – Auswirkungen für das deutsch-französische Tandem in der EU?, in: integration 41,2 (2018), 128–140, hier 128 ff.
06 Vgl. G. Hentges/H.-W. Platzer, Einleitung, in: Hentges/Nottbohm/Platzer (Hrsg.), Europäische Identität in der Krise?, a.a.O., 1–19, hier 1 ff.
07 Thomas, Ein Paradigmenwechsel im französischen Europadiskurs, a.a.O., 134.
08 Vgl. J. Bruns/K. Glösel/N. Strobl, Die Identitären. Handbuch zur Jugendbewegung der Neuen Rechten in Europa, Münster 2014; J.-Y. Camus, Die Identitäre Bewegung oder die Konstruktion eines Mythos europäischer Ursprünge, in: Hentges/Nottbohm/Platzer (Hrsg.), Europäische Identität in der Krise?, a.a.O., 233–247; G. Hentges, Die Identitären – eine Bewegung von rechts als Wegbereiterin einer anderen Republik?, in: Ch. Butterwegge/G. Hentges/B. Lösch (Hrsg.), Auf dem Weg in eine andere Republik? Neoliberalismus, Standortnationalismus und Rechtspopulismus, Weinheim 2018, 76–97; V. Weiß, Die autoritäreRevolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart 2017; V. Wölk, „Dies ist eine Kriegserklärung“. Der „Bloc Identitaire“ zwischen Kampfgemeinschaft, Debattierclub und virtueller Blase, in: der rechte rand, Nr. 143,24 (2013), 26.
09 www.identitaere-bewegung.de/kampagnen/identitaet/#more-74 [Aufruf: 11.3.2019].
10 Vgl. Hentges, Die Identitären, a.a.O.
11 www.youtube.com/watch?v= hBM3Hk7wGP4 [Aufruf: 3.5.2014; alle Fehler im Original].
12 Vgl G. Hentges/G. Kökgiran/ K. Nottbohm, Die Identitäre Bewegung Deutschland (IBD) – Bewegung oder virtuelles Phänomen?, in: Forschungsjournal soziale Bewegungen, Supplement zu 27,3 (2014), 26 Seiten.
13 Vgl. A. Speit (Hrsg.), Das Netzwerk der Identitären. Ideologie und Aktionen der Neuen Rechten, Berlin 2018.
14 Vgl. F. Schreiber, Inside AfD. Der Bericht einer Aussteigerin, München 2018, 116 ff.; 128 ff.

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