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Leseprobe 3 DOI: 10.14623/wua.2016.3.117-123
Christian Antz
Spiritueller Tourismus
Wachstumsmarkt für Kirchen und Tourismus
Der Begriff des Spirituellen Reisens

„Und es gehen die Menschen, zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren Fluten des Meeres und die weit dahin fließenden Ströme und den Saum des Ozeans und die Kreisbahnen der Gestirne, und haben nicht acht ihrer selbst“. Der hier beschriebene Reisende mit seinen nach innen gerichteten Gedanken könnte durchaus ein Zeitgenosse des 21. Jahrhunderts sein – in allen Weltgegenden unterwegs, sich selbst jedoch nicht findend. Doch der Autor Aurelius Augustinus schrieb diesen Satz in den ‚Confessiones‘ bereits 397/ 401 nieder. Fast tausend Jahre später war dieser Appell Richtschnur für Francesco Petrarca, als er 1336 den Mont Ventoux bestieg. Diese erste Reise- und Panoramabeschreibung einer realen Gipfelwanderung mündet letztendlich doch in einer Selbstreflexion unter Einschluss des genannten Augustinussatzes. Und wiederum 700 Jahre später gerät die Pilgerfahrt Hape Kerkelings nach Santiago de Compostela 2001 weniger zu einer Fußreise zu einem geografischen Ziel denn zu einer Reise zu sich selbst.

Fast sechs Jahre lang haben Kirchen und Tourismus in Sachsen-Anhalt um den Begriff einer sich neu entwickelnden Lebens- und Reiseform gerungen, bis 2006 das Begriffspaar ‚Spiritueller Tourismus‘ herauskam. Er füllt damit die Bandbreite von einer traditionellen Reise zu einem Ziel (‚Heilige Wege und Orte‘) bis zu einer geistigen Reise zu sich selbst (Sinn) oder/und zu Gott. Im Kern des Wortes verzahnen sich die Begriffe ‚Geist‘, wobei die christliche Auslegung die Lebensausrichtung auf den Heiligen Geist meint, und das ‚Unterwegs sein‘. Dieser Dualismus aus Heilig und Profan, Geist und Materie, Religion und Wirtschaft, Kirche und Welt bringt aber letztendlich den Inhalt dieser Reiseform auf den Punkt und macht auch seine Zukunftsfähigkeit aus.

Die Vieldeutigkeit des Spirituellen Tourismus als Handlungschance

Die scheinbare Interpretationsvielfalt macht den Spirituellen Tourismus zu einem ‚Containerbegriff‘ für verschiedene Tendenzen auf dem heutigen und künftigen Reisemarkt, die sonst schwer zu definieren und anzuwenden wären. Bislang wurden Formen des spirituellen Reisens, vor allem die Pilgerreise als älteste Form des Tourismus, unter dem Begriff des Religionstourismus zusammengefasst. Dieser auf religiöse Reisemotive beschränkte Begriff vernachlässigt aber den aktuellen Trend zur allgemeinen Sinnsuche und entpuppt sich damit als eher hinderlicher und begrenzender ‚Schubladenbegriff‘. Während im Religionstourismus die (Volks-)Frömmigkeit, die Gemeinschaft und die Außengerichtetheit im Vordergrund stehen, sind es beim Spirituellen Tourismus heute eher die Gegenwelt zum Alltag und die Innengerichtetheit. Die Offenheit und Anwendbarkeit des Dachbegriffes Spiritueller Tourismus dokumentiert sich zunehmend in der Entwicklung des gesamten Reisemarktes. Während die Themen des spirituellen Reisens noch 2006 klar dem Kulturtourismus zuzuordnen waren, so haben sich bis 2016 die Angebote als Schnittmengen zu Kultur-, Natur-, Aktiv- oder Gesundheitstourismus weiter entfaltet. Im endkundenorientierten Tourismusmarketing hat dieser unemotionale ‚Terminus technicus‘ jedoch nichts zu suchen; er fasst nur die Phänomene für die (Tourismus-)Wissenschaft und die (Tourismus-)Wirtschaft ‚back stage‘ zusammen.

Vorsicht ist ebenfalls bei der Überforderung des Begriffs geboten. Mittlerweile ist der Spirituelle Tourismus zu einem Vehikel gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen geworden, bei denen es insgesamt um die Vermittlung von spirituellen und religiösen Inhalten mit anderen Methoden geht. Diese Gefahr birgt der Begriff selbst in sich, da er solche weiten Interpretationsmöglichkeiten zulässt. Damit öffnet er sich aber auch neuen, bisher Kirchen fernen Zielgruppen. Davon ausgehend sind auch die künftigen wissenschaftlichen Verfahren zur Analyse des Spirituellen Reisens festgelegt. Nur in einem interdisziplinären Forschungsansatz zwischen Theologie und Tourismus, Soziologie und Ethnologie, Geographie und Medizin etc. lassen sich die Phänomene dieses zukunftsträchtigen Reisemarktes erschließen und beschreiben. Allein mit der Festlegung auf die Religionsgeographie sind die Fragen der Kunden nicht zu beantworten.

Dies hat auch die erste große wissenschaftliche Tagung zum Thema gezeigt, die die Deutsche Gesellschaft für Tourismuswissenschaft 2009 unter dem Titel „Spiritualität und Tourismus. Perspektiven zu Wandern, Wellness und Pilgern“ in Eichstätt ausgerichtet hat. Tourismuswissenschaft und -wirtschaft haben das Potential des Spirituellen Tourismus bislang als nicht Markt-relevantes Nischenthema noch vielfach unterschätzt; Theologie und Kirche stehen diesem neuen Reisetrend wegen seiner ökonomischen Ausrichtung und seinem breiteren, nicht nur auf die Religion ausgerichteten Ansatz eher skeptisch gegenüber. Beide könnten mit ihrer defensiven Haltung eine wichtige Handlungschance verpassen. [...]


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