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Leseprobe 3 DOI: 10.14623/wua.2018.3.121-125
Isabelle Senn
Was den Rahmen gibt – und sprengt
Das Evangelium und seine Parrhesia im Sprechen der Kirche
Die Freimütigkeit, mit der im öffentlichen Sprechen der Kirche – namentlich in der Predigt – die Frohbotschaft Jesu Christi verkündigt und das Evangelium ausgelegt wird, sorgt in regelmäßigen Abständen für mediale Aufmerksamkeit. „Alle Jahre wieder“ schlagen die Wellen hoch, und es wird heftig und kontrovers diskutiert: Zu welchen Themen darf der Prediger, die Predigerin sich auf der Kanzel (nicht) äußern? Und wo werden die Grenzen dessen überschritten, was das Evangelium den Gläubigen im Kontext einer aufgeklärten Öffentlichkeit als froh machende und handlungsweisende Botschaft zu sagen hat? Gerade an hohen kirchlichen Festtagen werden hierzulande (noch) zahlreiche Menschen mit dem Evangelium und dessen Auslegung erreicht. Und so erstaunt es nicht, dass sich an verschiedenen(!) Weihnachtspredigten des vergangenen Jahres die letzten großen öffentlichen Kontroversen darüber entzündet haben, wie freimütig kirchlicherseits über Gott und (vor allem) über die Welt gesprochen werden darf. Konkret wurde zwischen Weihnachten und Silvester 2017 und noch bis ins Jahr 2018 hinein darüber gestritten, wie politisch eine Predigt sein darf und wo die Kirche ihre Kompetenz übersteigt, indem sie sich etwa gezielt in parteipolitische Diskussionen einmischt.1

Berechtigung und Befähigung

Im Grunde lassen sich solche Kontroversen formal auf zwei Ebenen erörtern. In den Blick kommt einerseits die äußere Berechtigung der Kirche als „public player“: Hier geht es um eine gesellschaftliche Verortung der Kirche. Angesichts des universellen Anspruchs ihrer Botschaft muss Kirche darauf bedacht sein, prinzipiell alle Menschen zu erreichen und demnach das Evangelium nicht vorschnell auf konkrete politische Inhalte zuzuspitzen. Gleichwohl ist die Frage, wer wo was sagen darf, stets neu und öffentlich zu thematisieren, wobei seitens der Kirchen durchaus die ursprünglich auch politische Wirkung der Botschaft Jesu in Erinnerung zu rufen ist. Zur Frage nach der Berechtigung kirchlichen Sprechens in unterschiedlichen Kontexten und zu verschiedenen Themen tritt die Frage nach der inneren Befähigung des oder der Sprechenden: Rekurriert man in der Diskussion über die Predigt auf die Parrhesia, die Freimütigkeit, mit der gemäß biblischem Zeugnis und frühkirchlicher Verkündigungspraxis das Evangelium in der Welt verbreitet wurde, so drängt sich eine weitere Perspektive auf, die ebenfalls bedacht werden will und die im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen soll. Gemäß ihrem antiken Ursprung ist die Parrhesia gerade nicht die gesellschaftlich genormte Rede einer etablierten Institution, sondern die Stimme, die sich gleichsam „von unten“ Gehör verschafft und folglich keiner Legitimation „von oben“ bedarf.2

Worte und ihre Orte

Prototypen einer Kommunikation „von unten nach oben“ sind in den biblischen Schriften die Propheten. In ihrem Engagement für eine gottgefällige gesellschaftliche Ordnung stellen sie sich gegen den institutionellen Mainstream und setzen sich mit Leib und Leben dafür ein, dass Gottes (auf)richtendes Wort in der Welt gehört wird. Das verkündete Wort hat seinen Sitz im Leben des einzelnen Propheten; seine Existenz und das Wort lassen sich nicht mehr auseinanderdividieren, so dass die konkrete prophetische Existenz als „eine Art zweites Wort“3 verstanden werden kann. Das biblische Phänomen der Prophetie und im Besonderen der Fremdprophetie lässt erahnen, dass die Kommunikation des Wortes Gottes in der Gemeinschaft der um dieses Wort Versammelten sich nicht auf vorgesehene Orte und geregelte Kanäle beschränken lässt. Es ist auch mitnichten ein genau bestimmter und bestimmbarer Inhalt, der da mitgeteilt wird, sondern das Geschehen selbst ist im Zusammenspiel von Sprecher, Hörer und Inhalt die frohe Botschaft. Wer meint, Gottes Wort zu kennen, darf sich im Prozess der Verkündigung, welcher nicht erst mit Betreten der Kanzel beginnt und mit dem „Amen“ nach der Predigt endet, heilsam eines Besseren belehren lassen. Demnach entzieht sich auch die Feststellung dessen, was nun mit Fug und Recht als Wort Gottes verlautet werden kann, einer sicheren und endgültigen Überprüfung; die Wahrheit ist im Raum des „zwischen uns“ anzusiedeln.4 Das heißt nicht, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte zwischen zwei (oder mehr) Gesprächspartnern liegt; vielmehr geschieht sie im Beziehungsraum selbst und ist in diesem Sinne für jede der beiden Seiten an sich unverfügbar. Der Geist Gottes, der wirkt und „weht, wo er will“ (Joh 3,8), bringt die klassischen Lokalisierungen kirchlich-institutionalisierter Rede belebend und berichtigend durcheinander; das Verkündigungswort ergeht nicht einfach von „oben“ nach „unten“ und wird von „innen“ nach „außen“ verbreitet. Doch auch das genaue Gegenteil anzunehmen, würde dem Geschehen nicht gerecht; die Realität zwischenmenschlicher Kommunikation, welche nicht ohne den Geist zu denken ist, erweist sich als viel komplexer.

Bewährungsprobe und Bewahrheitung


Wenn im Kontext kirchlicher Rede auf die Parrhesia verwiesen wird, so ist das Wahr-Sprechen und damit letztlich immer auch das Wahr-Werden des Gesagten im Blick. Was mit Freimut und „im Geist“ ausgesprochen und verkündigt wird, bewährt sich als Evangelium, indem es sich bewahrheitet. Bereits die Propheten des Alten Testaments, die mit ihrem Sein und Tun für das verkündete Wort einstehen, haben dieses indes nicht in der Hand; einem Anderen ist es anheimgestellt, das Wort, dem ihre Existenz auf Gedeih und Verderb anhängt, wahr zu machen. Hermann Steinkamp, der eine Parrhesia-Praxis zunächst für den Rahmen der Gemeinde und für die Qualifikation von Seelsorgenden fruchtbar zu machen sucht, verortet Parrhesia-Sprechakte dort, wo Glaubende sich gegenseitig der Botschaft Jesu Christi vergewissern: Das Risiko dieser Botschaft, das – gerade vor dem Hintergrund einer zunehmenden gesellschaftlichen Individualisierung – für den Einzelnen kaum noch tragbar ist, kann von einer Gemeinschaft getragen werden, die aus dem gegenseitigen Vertrauen und im Bewusstsein der Angewiesenheit auf das Wirken des Geistes Gottes lebt.5 Dass die befreiende Wahrheit des Evangeliums Gestalt bekommt und so auch über den Raum der Gemeinde hinaus erfahrbar wird, setzt neben dem (Wahr-)Sprechen auch das (Wahr-)Hören voraus; beide Seiten des Kommunikationsvorgangs gehören zusammen, wenn wahr werden soll, was wahr werden will. Für den Sprechenden bleibt es gleichwohl riskant, die Botschaft (und sich selbst mit ihr) dem Hörenden auszusetzen und sich dem Unbekannten und Fremden zu öffnen. So bleibt es auch eine der wohl größten Herausforderungen für die Kirche, die ihr anvertraute Botschaft in die Welt zu setzen und dabei ihr ganzes Vertrauen darauf zu setzen, dass die von Jesus Christus verbürgte Wahrheit am Ende – und nicht erst da – aufblühen wird, ohne angewiesen zu sein auf einen ausbuchstabierten Gehorsam, wie er von der kirchlichen Institution zuweilen zusammen mit der Botschaft tradiert und eingefordert wird.6 Die Ohnmacht des Wortes, die sich selbst durch den Rahmen einer anerkannten und bewährten Institution nicht kompensieren lässt, kann in der Verkündigung nicht schöngeredet werden; das Evangelium erfährt Widerstand an einer Weltwirklichkeit, der es an Nein-Worten nicht mangelt. Doch gerade sie geben Anlass dazu, die eigene Weltwahrnehmung mit dem unverfügbaren Zuspruch Gottes ins Gespräch zu bringen und gemeinsam mit anderen glaubenden, suchenden und fragenden Menschen den Raum des „zwischen uns“ zu erkunden und zu besiedeln, in dem die Wahrheit von sich reden macht, ohne sich dingfest machen zu lassen.

Kommunikation und Communio

Gottes Wort in Menschenworten ergeht nicht in einer Einbahnkommunikation von oben nach unten. Ebenso wenig kann es auf das Wort- und Lebenszeugnis des einzelnen Propheten beschränkt werden. Gottes Wort wird in einem mannigfaltigen Geschehen mit unterschiedlichen Akteuren laut. Es wird nicht einmalig ausgesprochen – und damit wäre alles gesagt; vielmehr lebt das Wort Gottes davon, dass es in verschiedene Worte gefasst, angehört, wiederholt, hinterfragt, ins Gespräch gebracht, meditiert, „gekaut“, diskutiert, gekostet, betrachtet, erwidert wird. Menschen, die mit diesem Wort (in vielen Worten) in Berührung kommen, hören hin, merken auf, stimmen ein, fragen zurück, lassen auf sich wirken, vertrauen darauf, ge-horchen und glauben ihm. Keiner „hat“ das Wort, alle aber, denen es zu Ohren und Herzen gekommen ist, bleiben ihm nah und treu, indem sie sich seiner immer wieder neu vergewissern. Diese Vergewisserung jedoch funktioniert nur als ein Gemeinschaftswerk; die Grenze legitimer und gelingender kirchlicher Kommunikation wäre folglich dort erreicht, wo die Verkündigung nicht mehr getragen ist von der Gemeinschaft der Gläubigen, wo etwa in einer Sonntagspredigt der Pfarrer bloß seine persönlichen Überzeugungen und sein eigenes Weltbild kundtut und nicht dem „sensus fidei“ der versammelten Gemeinde Rechnung trägt. Die Entwicklung einer „Parrhesia-Kultur“7 soll nicht nur für innerkirchliche Prozesse im Umgang mit dem Wort Gottes wegweisend sein, sondern der Kirche auch für ihr Zeugnis in der Welt und für die Welt Glaubwürdigkeit verleihen. Als Glaubensgemeinschaft weiß sich die auf das Wort hörende Gemeinde im Letzten verwiesen auf Gott. Dieses Bewusstsein bewahrt die Kirche davor, institutionell oder personell das zu verkündigende Wort Gottes zu vereinnahmen; denn die Autorität des Wortes Gottes lässt sich weder von einer Institution noch von einzelnen Menschen aneignen. Gottes Wort aber nimmt jene in den Dienst, ihm unter (also: zwischen) ihnen Raum zu geben, auf dass dieses Wort selbst die Menschen, denen es da begegnet, in ihrer Lebenswirklichkeit trifft und belebt.

Parrhesia und Predigt


Zusammen mit dem Wort Gottes ist der Kirche die Parrhesia gegeben: die Fähigkeit, in der Kraft des Heiligen Geistes freimütig und wirkungsvoll das Evangelium Jesu Christi zu verkündigen. Diese Botschaft hat in den ersten Jahrzehnten und Jahrhunderten des Christentums den Rahmen des gesellschaftlich Gewohnten gesprengt. Als sog. „Volkskirche“ hat die Kirche über viele Jahrhunderte hinweg selbst den gesellschaftlichen Kontext ihrer Verkündigung gebildet oder zumindest geprägt.8 Je länger je mehr hat sich die Kirche, jedenfalls in Westeuropa, Anfragen einer aufgeklärten Gesellschaft bezüglich ihrer Botschaft zu stellen und ist in die Begründungspflicht gerufen, was den Anspruch ihres Auftretens betrifft. Unter diesen Voraussetzungen gewinnt die antike und altkirchliche Kunst der Parrhesia neu an Bedeutung. Das Evangelium hat ein Potential, das sich in keiner Zeit erschöpft, sondern je neu ausgeschöpft werden will; dies geschieht, wo die überlieferte Botschaft nicht nur inhaltlich, sondern auch formal-kommunikativ auf der Höhe ihrer Zeit ins Gespräch gebracht wird und so erneut ihre Kraft zu entfalten vermag. Die Predigt lässt sich dann als Frucht dessen bezeichnen, was sich im gemeinsamen Hinhören auf das Evangelium als Aufgabe und Verheißung für die Gegenwart herauskristallisiert hat. Wird eine Predigt als Informationsveranstaltung zur „Belehrung“ der Massen oder zur Manipulation der Stimmbürger wahrgenommen, verfehlt sie ihr Ziel und offenbart weniger göttliche Parrhesia als menschliches Machtkalkül. Findet das Evangelium durch sie jedoch Resonanz in der konkreten Existenz der Hörenden (und der Predigenden, die selbst zuerst Hörende sind), wird die Predigt in ihrer Parrhesia-Dimension erfahrbar: als freisetzend, inspirierend und die weitere gemeinsame Vergewisserung anregend.

Das Evangelium gibt der kirchlichen Rede einen Rahmen – und sprengt ihn zugleich; das Wort über das einst Geschehene wird selber zum Geschehen und nimmt Menschen hier und heute hinein in den Heilsdialog, den Gott initiiert hat und den er kontinuierlich fortführt. Eine Predigt, die sich dem Evangelium verdankt fühlt und verpflichtet weiß, erfüllt ihren Zweck nicht allein darin, dass sie mit Freimut – offen und öffentlich – von Gottes Heilswillen und damit nicht zuletzt von seiner Option für die Armen spricht. Wo es einer Predigt gelingt, diese befreiende Botschaft kraft des Heiligen Geistes zu vergegenwärtigen, da wird sie überdies zu einem eröffnenden Geschehen: Sie setzt je neu einen kreativen, gemeinschaftlichen Prozess der Auseinandersetzung mit Gottes Ja-Wort in Gang.

Anmerkungen

1 Einen Überblick über die am Jahreswechsel 2017/18 geführte Debatte zur politischen Dimension von Weihnachtspredigten gibt etwa: https://www.domradio.de/suche?keywords=predigt+politik+weihnachten&x=0&y=0 [Aufruf: 17.3.2018]. Vgl. insbes. den Artikel von Th. Winkel vom 29.12.2017 unter: https://www.domradio.de/themen/%C3%B6kumene/ 2017-12-29/streit-um-politik-predigten-geht-vor-silvester-weiter [Aufruf: 17.3.2018].
2 Vgl. dazu in diesem Heft Th. Eggensperger, Parrhesia. Wahrheit sprechen (98–100) und Ch. Hengstermann, Freie Rede in Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Begriff und Geschichte der griechischen παρρησία (107–112).
3 H. Schlier, Wort Gottes. Eine neutestamentliche Besinnung, Würzburg 21962, 26.
4 Vgl. H. Steinkamp, Parrhesia – kreativer Weg zu mehr Vertrauen, in: M. Felder/J. Schwaratzki (Hrsg.), Glaubwürdigkeit der Kirche. Würde der Glaubenden. Festschrift für Leo Karrer, Freiburg/Br. 2012, 48–54, hier 51.
5 Vgl. ebd., 51f.
6 Auf diesen Zusammenhang macht in Anlehnung an Michel Foucault aufmerksam M. Schüßler, „Leerstelle“ Wahrhaftigkeit? Was man mit Foucaults Parrhesia (nicht nur) jugendpastoral entdecken kann, in: R. Bucher u. a. (Hrsg.), Was fehlt? Leerstellen der katholischen Theologie in spätmodernen Zeiten. Ein Experiment, Würzburg 2015, 143–168, hier 148.
7 H. Steinkamp, Parrhesia, a.a.O., 53.
8 Für die Praxis der Parrhesia hatte dies zur Folge, dass der Fokus von der altkirchlichen Tugend freier und mutiger, durchwegs auch riskanter Rede in der Öffentlichkeit auf den der kirchlichen Führung geschuldeten Gehorsam, verbunden mit einem kindlichen Vertrauen, verschoben wurde. Vgl. M. Schüßler, „Leerstelle“ Wahrhaftigkeit?, a.a.O., 148f.

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