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Leseprobe 3
Michael Quisinsky
Wiedergelesen
Marie-Dominique Chenu: „La théologie est-elle une science?“ (1957)
Auf die eindeutige Frage „Ist die Theologie eine Wissenschaft?“, die den Titel zu Marie-Dominique Chenus Büchlein aus dem Jahre 1957 (1) bildet, gibt der Dominikaner auf den ersten Blick keine ebenso eindeutige Antwort. Beim zweiten Blick – der sich aufgrund Chenus Sprachkraft recht schnell eröffnet – handelt es sich hierbei allerdings nicht um einen Mangel an Eindeutigkeit. Vielmehr antwortet Chenu in einer Art Deutungshilfe christlichen Lebens und Denkens, in der vom Wort Gottes her Einsichten und Erkenntnisse möglich werden, die lebenspraktisch und vernunftgemäß Gottes offenbare Wirklichkeit als Horizont menschlicher Existenz in der Welt der Geschichte und der Geschichte der Welt erweisen.

Historische Theologie – über die Geschichte hinaus

In der Tat ist das Anliegen des Büchleins (das nicht in erster Linie vom konkreten universitären Wissenschaftsbetrieb handelt, für diesen aber vielleicht gerade deshalb umso inspirierender sein kann) ein Mehrfaches. So soll etwa angesichts der zeitgenössischen Diskussionen die Wissenschaftlichkeit der Theologie dargelegt und auch verteidigt werden. Weiterhin will Chenu die Aufgabe der wissenschaftlichen Theologie im Rahmen einer sich in vielfältigen, wenn auch z.T. zaghaften, Auf- und Umbrüchen befindlichen Kirche aufzeigen. Vor allem aber entwirft Chenu ein Verständnis von „Theologie“ und „Wissenschaft“, das damalige und bisweilen auch heute gängige Definitionen aufsprengt und zwar näherhin von ihrem Gegenstand her: von Gott und seinem „Mysterium“ her, das sich auf diese Weise zugleich als Mysterium des Menschen erweist.

Meditation christlicher Existenz

Die beiden erstgenannten Anliegen bringen es mit sich, dass Chenus Ausführungen von zahlreichen Hinweisen und Anspielungen begleitet sind, die die Situation des französischen Katholizismus der 1950er Jahre widerspiegeln. Das dritte Anliegen, obwohl gänzlich in diese Situation eingebettet und aus ihr erwachsen, führt in eine geradezu überzeitliche Dimension des Büchleins ein, wobei der Ausdruck „überzeitlich“ in einem immer an der je konkreten Zeit ausgerichteten Sinn zu verstehen ist: im Grunde genommen handelt es sich um eine Meditation christlicher Existenz – dies allerdings v.a. im Bewusstsein der herausragenden Rolle menschlicher Vernunft, die wiederum nicht nur an das Gesamt der menschlichen Existenz rückgebunden ist, sondern darüber hinaus an die Herkunft und Zukunft der Welt, wie sie von Gott her als sinn-voll erkannt zu werden vermag.
„So ist der Glaube von seiner Natur her und durch die spontane Erhebung seiner Gnade einer Theologie trächtig. ‚Theologie‘ ist hier im vollen Wortsinn und in der ganzen Tragweite des Begriffs zu verstehen: Theologie ist Erkenntnis Gottes, ob es sich um die ganz einfache Durchdringung eines Blickes handelt oder um die Fülle des durch die bewusste Erfassung seines Gegenstandes erwachsen gewordenen Glaubens, ob es sich um das organisierte und technische Wissen in Form einer menschlichen Wissenschaft handelt oder um die pastorale Weitergabe der Botschaft des Evangeliums.“ (33)
Theologische Existenz – über die Biographie hinaus Die Veröffentlichung des Büchleins „La théologie est-elle une science“, übrigens als zweiter Band der Reihe „Je sais-je crois“ mit dem ehrgeizigen Untertitel „Encyclopédie du catholique au XXe siècle“, fällt in eine für Chenus Wirken denkwürdige Zeit. Im selben Jahr erschienen auch „La théologie au XIIe siècle“ (2) und die dritte Auflage von „La théologie comme science au XIIIe siècle“ (3). Kurze Zeit später folgte „Saint Thomas d‘Aquin et la théologie“ (4), in dem Chenu in die Intuitionen des Aquinaten einführt und sie zugleich fortschreibt. Sind dies wesentliche Grundlegungen für das Chenu‘sche Verständnis der Theologie als Wissenschaft, so bliebe dieses einseitig ohne die geistlich-pastoralen Intuitionen, Erfahrungen und Einsichten, die Chenu etwa in „Pour une théologie du travail“ (5) 1955 entfaltet hat und durch die sein Einsatz für die Arbeiterpriester besonders breitenwirksam wurde. (6) So zeigt sich von diesen herausragenden Veröffentlichungen jener Zeit her exemplarisch, wie sehr in Chenus Theologie geistliche, systematische, historische und pastorale Zugangsweisen – die jeweils (!) „theoretische“ und „praktische“ Einsichten und Potenziale beinhalten – ineinander wirken. Stets präsent, wenn auch wenig erwähnt, ist im vorliegenden Bändchen Jesus Christus, ist doch die Inkarnation als Zentrum der Heilsökonomie Prinzip Chenu‘schen Theologieverständnisses. Nicht zu vergessen ist, dass Chenu als Dominikaner in einem regen geistigen Austausch mit seinen Mitbrüdern stand. In den 1930er Jahren, die für sein Werk als grundlegend gelten können, zeigt dies zum einen seine Programmschrift „Une école de théologie: le Saulchoir“. (7) Zum anderen waren dies die Jahre, in denen Chenu in Le Saulchoir mit Yves Congar OP und Henri-Marie Féret OP ein „Trio“ bildete. Gemeinsam gingen die drei Dominikaner Fragen der Geschichtlichkeit des Glaubens in dann je persönlich geführter, u.a. ekklesiologisch, fundamentaltheologisch und exegetisch akzentuierter, oft theologiegeschichtlicher (und das meinte bei Chenu immer auch kultur-, sozial und mentalitätsgeschichtlicher) Forschungsarbeit nach. (8) Einen etwas versteckten, aber gewichtigen Hinweis darauf gibt Chenu in der abschließenden „Note biographique“ von „La théologie est-elle une science?“, die er mit dem Hinweis auf ein wesentliches Ergebnis der gemeinsamen Arbeit des Trios beginnen lässt: „Eine ausgezeichnete Darstellung der Natur, der Funktionen und der Methoden der Theologie gibt P. Congar im Artikel des Dictionnaire de théologie catholique, XV, Sp. 398–502. Die Geschichte der Theologie stellt hier den Boden für die dogmatische Reflexion bereit, Sp. 475–502.“ (9)

Aufbau des Buches und Struktur der Theologie – über Strukturen hinaus

Zunächst widmet sich Chenu in einem ersten Kapitel der Problemstellung, die die Frage, ob die Theologie eine Wissenschaft sei, mit sich bringt. Ein zweites Kapitel handelt von der Glaubenserkenntnis, ein drittes nimmt die Theologie im Verhältnis zum Mysterium in den Blick. Nicht zufällig steht in der Mitte das vierte Kapitel „Die Theologie als Wissenschaft“. Es folgt als fünftes Kapitel eine Darstellung der theologischen Systeme unter besonderer Berücksichtigung des thomistischen. Das sechste Kapitel ist zeittypisch etwas unbeholfen mit „Positive, scolastique, spirituelle, pastorale“ überschrieben, widmet sich aber bleibend aktuell der Frage nach der Einheit der in sich differenzierten Theologie. Das siebte und letzte Kapitel handelt von „Theologie und Kultur“ und legt, von Thomas von Aquin herkommend, abschließend in Form einer Frage eine Theorie theologischer Inkulturation „avant la lettre“ vor: „Muss der Glaube sich, um seine nicht nur je persönliche, sondern innerhalb eines Zivilisationszyklus auch soziologische Rolle wahrzunehmen, als Theologie entfalten? Und wie steht die Theologie dann gemäß der Würde ihres Objekts aktiv der Entfaltung einer menschlichen Kultur vor?“ (116)

Aus dieser Frage spricht, was die Rolle der christlichen Theologie für die „Welt“ angeht, ein gewisser Optimismus. (10) Dass wir heute sehr viel stärker die Fraglichkeit und Brüchigkeit allen menschlichen und christlichen Lebens und Denkens zum Gegenstand der Theologie machen, verdanken wir der fundamentalen Einsicht des II. Vatikanums, dass die Kirche „in der Welt von heute“ ist. Hier gilt es theologiegeschichtlich die Rolle Chenus zu erinnern: Was Theologen wie Chenu – und aufgrund der Theorie-Praxis-Verschränkung seines Werkes viele andere mit ihm – am Vorabend des II. Vatikanums grundgelegt haben, wurde durch das Konzil gesamtkirchlich rezipiert und wird in dessen Rezeption bis heute entfaltet. Das Beispiel der eben genannten „Inkulturation“ zeigt dies besonders deutlich.

Theologie: Wissen zwischen Nichtwissen und Besserwissen

Angesichts einer schleichenden „Exkulturation“ des Glaubens bedarf es „in der Welt von heute“ gewaltiger Anstrengungen, mit dieser „Welt von heute“ immer neu das Mysterium Gottes und das Mysterium des Menschen zu entdecken. Dies ist gemäß den Intentionen des II. Vatikanischen Konzils Aufgabe der gesamten Kirche. Deshalb gilt mehr denn je, was Chenu unter Anspielung auf die Figur des Monsieur Jourdain aus Molières „Le bourgeois gentilhomme“ unnachahmlich formuliert: die zahllosen Christinnen und Christen, die um ein besseres (lebenspraktisches und vernunftgemäßes) Verständnis ihres Glaubens ringen, „betreiben Theologie, so wie Monsieur Jourdain Prosa spricht, ohne es zu wissen“ (18). Wenn aber alle Christinnen und Christinnen in diesem Sinne Theologinnen und Theologen sind, wozu dann Theologie als Wissenschaft? Das letzte Zitat Chenus geht weiter: „Es wäre besser, es zu wissen“ (ebd.). Denn: mit Thomas von Aquin gesprochen ist Theo-logie menschliche „Teilhabe an der göttlichen Erkenntnis“ (24). Allerdings stellt die Wertschätzung dieser Art von Wissen eine Absage dar an jede Form menschlich-allzumenschlicher Besserwisserei. In der „gewohnten Nüchternheit“ (40) des Thomas von Aquin ausgedrückt: „Von Gott können wir nicht wissen, was er ist, sondern nur, was er nicht ist, und welche Beziehung mit ihm alles Weitere unterhält“ (ebd.). Nebenbei bemerkt: dies wäre auch noch einmal als Rückfrage an Chenu selbst zu richten, der in der Leidenschaftlichkeit eines engagierten Thomisten die Grenzen der eigenen und die Erkenntnismöglichkeiten anderer (z.B. augustinistischer, vgl. 62) theologischer Anwege mitunter weniger in den Bick nimmt. Wo heute gerade im Zusammenspiel der verschiedenen Anwege die wissenschaftliche Theologie sich je neu ausweist als demütiger Dienst an der Erkenntnis Gottes und am Selbstverständnis des Menschen, da erweist sich im wissenschaftlichen Alltag Unkenrufen und Kleinmut zum Trotz Chenus legendärer Optimismus als berechtigt: richtig verstanden ist Theologie als spezifischer Ausdruck kirchlich verfassten Glaubens selbstverständlich Wissenschaft und, wenn sie sich in das Konzert der Wissenschaften einbringt, als solche in diesem anerkannt.


01 M.-D. Chenu, La théologie est-elle une science?, Paris 1957, Neudruck 1999.
02 Ders., La théologie au douzième siècle. Préface d’E. Gilson, de l’Académie Française (Etudes de philosophie médiévale vol. 45), Paris 1957.
03 Ders., La théologie comme science au XIIIe siècle, Paris 31957 [dt.: Die Theologie als Wissenschaft im 13. Jahrhundert (Collection Chenu Bd. 4), Ostfildern 2008].
04 Ders., St Thomas d’Aquin et la théologie, Paris 1959 [dt.: Thomas von Aquin mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von M.-D. Chenu, Hamburg 1960, 92001].
05 Ders., Pour une théologie du travail, Paris 1955.
06 Vgl. M. Quisinsky, Marie-Dominique Chenu, Le sacerdoce des prêtres-ouvriers, in: Wort und Antwort 54 (2013), 83–85.
07 M.-D. Chenu, Le Saulchoir. Eine Schule der Theologie (Collection Chenu Bd. 2), Berlin 2003 [frz. Erstausgabe 1937].
08 Siehe M. Quisinsky, Geschichtlicher Glaube in einer geschichtlichen Welt. Der Beitrag von M.-D. Chenu, Y. Congar und H.-M. Féret zum II. Vaticanum (Dogma und Geschichte Bd. 6), Münster 2007, 45–112, 129– 171.
09 M.-D. Chenu, La théologie estelle une science, a.a.O., 119. „O-Töne“ der Diskussionen und Bewertungen innerhalb des „Trios“ Chenu-Congar-Féret im Zusammenhang des Artikels bei M. Quisinsky, Geschichtlicher Glaube in einer geschichtlichen Welt, a.a.O., 57.
10 Dass dies in Congars und Chenus Werk die Reflexion einer Krise des christlichen Glaubens einschließt, kann hier nur erwähnt werden.

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